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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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Gruß. Eine Höflichkeitsbezeugung mit dem Unterleib. Sie kannten sich seit der Schule und hassten sich seitdem, ohne wirklich zu wissen warum. Sie waren hinter denselben Mädchen her gewesen, hatten dieselben Spiele gespielt, hatten wahrscheinlich dieselben Schmerzen empfunden. Und die Zeit hatte sie ausgehöhlt, so wie sie Körper und Herzen aller Menschen aushöhlt.
    «Er ist also tot?» «Mausetot, Vater Marcoire.»
    «Das Schwein, mir so was anzutun.»
«Er war eben in dem Alter.»
«Soll das heißen, ich auch?»
«Das soll es heißen.»
    «Der Mistkerl, mir so was anzutun! Was soll jetzt aus mir werden?»
    «Sie werden fortziehen, woanders hingehen, Vater Marcoire.»
    «Du bist vielleicht gut, du Rotzbengel. Woanders hingehen ... du bist genauso blöd wie dein Vater. Der alte Dreckskerl. Denkt, dass er nur geboren wurde, um mich zu ärgern ... Was soll bloß aus mir werden ... Glaubst du, er hat gelitten?» «Ich glaube nicht.» «Nicht mal ein bisschen?»
    «Vielleicht. Ich weiß nicht, wer kann das wissen?» «Ich werde leiden, das ist mal sicher, ich spüre, dass es schon anfängt ... das Schwein ...»
    Fantin ging weg, dort entlang, wo früher die Hauptstraße des Dorfes gewesen war. Er machte Umwege um die alten Granattrichter. Alle paar Meter bezeichnete er dabei meinen Vater als «Schwein» und «Idiot». Dann bog er bei Camilles Kurzwarengeschäft «Seidenbänder, Besatzartikel, Modewaren», dessen zerfetzte Holzjalousie aussah wie die geborstenen Tasten eines riesigen Klaviers, um die Ecke und verschwand. Das Haus meines Vaters war ein Schweinestall. Ich habe wirklich versucht, darin vergessene Stimmungen, Erinnerungen, Bilder von früher wieder zu finden. Aber nichts regte sich. Schmutz und Staub hatten alles mit einer starren Kruste überzogen. Es wirkte wie der große Sarg eines Toten, der am liebsten alles mitgenommen hätte, am Ende jedoch nicht den Mut dazu gehabt hatte. Mir fiel ein, was der Lehrer uns über Ägypten erzählt hatte, über die Pharaonen und ihre Gräber, die zum Bersten mit vergänglichen Reichtümern angefüllt waren. Das Haus meines Vaters hatte etwas davon, bloß dass es bei ihm statt Gold und Edelsteinen nur schmutziges Geschirr und leere Weinflaschen gab, die zu wackligen, durchscheinenden Haufen aufgestapelt waren. Ich hatte meinen Vater nie geliebt und wusste nicht einmal warum. Ich habe ihn auch nie gehasst. Wir haben einfach nicht miteinander gesprochen, das ist alles. Zwischen uns stand immer der Tod meiner Mutter, wie ein Gebirgsgrat, wie eine undurchdringliche Stille, die keiner von uns zu durchbrechen vermochte, um dem anderen die Hand zu geben.
    In dem Zimmer, das einmal meines gewesen war, hatte er einen befestigten Gefechtsstand eingerichtet. Ein schäbiges kleines Fort aus Zeitungsstapeln, die bis zur Zimmerdecke reichten. Vom Fenster war nur noch eine schmale Schießscharte übrig, durch die er das heruntergekommene Gebäude sehen konnte, in dem Fantin Marcoire hauste. Auf dem Boden neben der Öffnung lagen zwei Steinschleudern aus Haselstrauchzweigen und Streifen von Gummischläuchen, wie man sie als kleiner Junge baut, wenn man auf Raben und die Hinterteile der Feldhüter schießen will. Daneben ein Vorrat an verrosteten Krampen und verbogenen Schrauben, ein Stück angebissene Wurst, eine halb ausgetrunkene Literflasche tiefroten Weins, ein schmutziges Trinkglas. Das war der Ort, wo mein Vater seinen Krieg fortgesetzt hatte, von wo aus er mit kleinem Eisenzeug seinen ewigen Feind bombardierte, wenn der aus seiner Behausung kam. Ich habe mir vorgestellt, wie er hier grübelnd und trinkend Stunden verbrachte, den hellen Spalt im Auge behielt, auf die Straßengeräusche lauschte und sich immer wieder nachschenkte: So wie man der Zeit ein Schnippchen schlägt, wenn man auf seine Armbanduhr sieht. Dann plötzlich nach einer Steinschleuder greifen, Munition einlegen, den Gegner ins Visier nehmen, auf seine Verwünschungen warten, zuhören, beobachten, wie er sich Bein, Backe oder Hintern reibt, die vielleicht sogar bluten, wie er die Faust schüttelt, sich mit allen möglichen Schimpfwörtern belegen lassen, sich auf die Schenkel schlagen, lachen, bis man sich die Lunge aushustet, lange lachen und darauf warten, dass das Lachen sich in groteskem Schluckauf verliert, vor sich hin brabbeln, wieder Atem schöpfen, des Ernstes, der Langeweile, der eigenen Leere gewahr werden. Sich mit zittriger Hand Wein einschenken, ihn auf einen Zug austrinken, denken, dass man nicht

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