Die grauen Seelen
viel wert, ja unbedeutend ist, dass das alles nicht mehr lange dauern kann, dass ein Tag sehr lang ist, dass man noch durchhalten muss, dass noch viele Tage kommen werden. Dann die Flasche auf einen Zug leer trinken und denken, dass man ein Nichts ist.
Als ich das Zimmer verließ, stieß ich mit der Schulter an einen Zeitungsstapel, der raschelnd wie welke Blätter zusammenfiel. Vergessene Tage glitten mir zu Füßen, verblichene Jahre, weit entrückte Dramen. Und inmitten all dessen sprang mir der Name Matziev entgegen, in Großbuchstaben, am Kopf eines kurzen Artikels ganz oben auf einer Seite.
Der Vorfall hatte sich im Jahr 1894 ereignet, an einem Tag im Dezember. Vielmehr an einem Abend. Leutnant Isidore Matziev, so stand dort geschrieben, und ich zitiere, hat vor einer Versammlung, die im Hinterzimmer eines Cafés zusammengekommen war, seinen Glauben an Hauptmann Dreyfus' Unschuld verkündet. Unter dem Applaus des aus Gewerkschaftern und Revolutionären bestehenden Publikums hat Matziev, der seine Uniform trug, weiter geäußert, er schäme sich, einer Armee anzugehören, die die Gerechten einsperre und die wahren Verräter laufen lasse. Die Zeitung schrieb, die Menge habe ihm einen Triumph bereitet, unterbrochen durch das Eintreffen der Gendarmen, die zahlreiche Knüppelhiebe ausgeteilt und sofort einige Anwesende verhaftet hätten, darunter auch Matziev. Man sehe in ihm einen Unruhestifter, der das Schweigegebot gebrochen und durch seine Worte die Ehre der französischen Armee befleckt hat, deshalb wurde der Leutnant Matziev am übernächsten Tag vor ein Militärgericht gestellt, das ihn zu sechs Monaten verschärftem Arrest verurteilte. Der Schmierfink, der diesen Artikel verfasst hatte, schloss, indem er sich über die Einstellung des jungen Militärs aufregte, dessen Name übrigens stark nach Jude oder Russe klingt, falls er nicht beides ist. Der Artikel war mit Amedee Prurion unterzeichnet. Ein alberner Name für ein richtiges Schwein. Was ist wohl aus diesem Prurion geworden? Hat er noch lange seinen alltäglichen Hass auf vergilbtes Papier gekotzt, das in manchem Haushalt bestimmt zum Abwischen von Hintern benutzt wurde? Prurion. Der Name klingt wie eine Krankheit, wie ein alter, nie ausgeheilter Herpes. Ich bin sicher, dass Prurion aussah wie eine Küchenschabe, mit Säbelbeinen, Mundgeruch, wie einer diese Menschen, die ihre Galle ausspucken und sich danach verbittert in verlassenen Kneipen voll laufen lassen, wobei sie auf das Hinterteil der Saalbedienung schielen, die gerade mit dem Schrubber putzt und Sägemehl verstreut. Falls Prurion heute tot ist, dann gibt es einen Mistkerl weniger auf der Erde. Falls er noch lebt, dann ist er bestimmt kein schöner Anblick. Der Hass ist eine grausame Marinade. Jedenfalls war Matziev, auch wenn ich ihn kennen gelernt habe, als er bereits selbst ein solcher Abschaum geworden war, mehr wert als er. Wenigstens ein Mal in seinem Leben hat er bewiesen, dass er wirklich ein Mensch war. Wer kann so viel von sich behaupten? Ich habe den Artikel als Beweisstück aufbewahrt. Als Beweis wofür auch immer! Ich bin aus dem Haus gegan gen und nie zurückgekehrt. Ich musste wieder an Matziev denken, an seinen dünnen gewichsten Schnurrbart, seine verdrehten Zigarren, sein Grammophon, das das Liedchen zerkratzte. Auch er hat sich schließlich mit seinem ganzen Marschgepäck in der Zeit verloren, sobald die Affäre geregelt war, geregelt für sie, versteht sich. Wahrscheinlich hat er seine Caroline weiter von Ort zu Ort geschleppt, auf der Suche nach nichts. Wenn man seinem Blick begegnete, gab er einem das Gefühl, er sei angekommen. Wo, wusste man nicht. Aber angekommen. Und dass es ihm da, wo er war, nichts mehr nützte, sich aufzuregen. Dass alles vorbei sei. Dass ihm nur noch bliebe, auf das letzte Rendezvous zu warten.
Heute Nacht fiel viele Stunden lang Schnee. Ich hörte ihn, während ich schlaflos im Bett lag. Jedenfalls hörte ich seine Stille, erahnte hinter den Fensterläden sein alles erdrückendes Weiß.
Diese Stille und der weiße Teppich scheiden mich noch ein wenig mehr von der Welt. Als ob ich das nötig hätte! Clémence liebte den Schnee. Sie sagte mir sogar: «Wenn es schneit, wird das ein hübsches Kleid für unseren Kleinen geben.» Sie ahnte nicht, wie Recht sie damit hatte. Dieses Kleid wurde auch ihr eigenes. Um sieben Uhr habe ich die Tür aufgemacht. Die Landschaft wirkte wie aus der Konditorei: überall Sahne und Zuckerguss. Ich musste blinzeln.
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