Die grauen Seelen
Schnürsenkel, und alle fünf Minuten setzte er sein knisterndes Gerät in Gang. Er hörte immer dasselbe Chanson, einen Schlager, der einige Jahre zuvor in Mode gewesen war, als wir alle noch glaubten, die Welt werde ewig währen und man müsse, um glücklich zu sein, nur fest daran glauben:
Caroline, mets tes p'tits souliers vernis... Caroline, je te le dis...
Zwanzig-, ja hundertmal am Tag zog Caroline ihre hübschen, polierten Schühchen an, während der Oberst mit abgeknicktem Handgelenk, Ringen an allen Fingern, elegant seine kleinen, bräunlichen Stinkestängel rauchte und den Blick über die umliegenden Dächer schweifen ließ. Noch heute habe ich dieses Lied im Ohr: Ich knirsche dabei mit den Zähnen. Als wir es hörten, waren wir alle in Gedanken bei Belle de Jour und stellten uns das Gesicht des Tiers vor, das so etwas getan hatte, und deshalb quälte uns das Chanson des Obersts. Im Grunde war es etwas Ähnliches wie die Eier des Richters, seine «kleinen Welten», die er zwei Schritte neben der Leiche verspeist hatte. Und kein Wunder auch, dass diese beiden, Mierck und Matziev, ohne dass sie sich vorher gekannt hatten und obwohl sie so verschieden waren wie Tag und Nacht, sich so gut verstanden. Im Grunde, scheint es, ist alles nur eine Frage des Schmutzes.
XIII
Aber nichts ist einfach. Nur Heilige und Engel täuschen sich nie. Angesichts dessen, was dieser Matziev getan hat und was ich noch erzählen werde, würde man ihn kurzerhand mit jeder Art von Abschaum in einen Sack stecken. Dennoch ist dies derselbe Mann, der dreiundzwanzig Jahre vor der Affäre seine Karriere in den Schmutz treten ließ und eine Ewigkeit Leutnant blieb, während andere mit Tressen dekoriert wurden, und all das nur, weil er Dreyfus unterstützt hatte. Aber Achtung: Er war kein eitler Mitläufer, keiner, der seine Meinung am Ende eines guten Mahles im Kreise der Familie zu erkennen gab, wie tausend andere es getan haben! Nein, Matziev war zu jener Zeit mutig wie ein Stier und hat den kleinen Hauptmann in aller Öffentlichkeit unterstützt, hat laut gesagt, er glaube an dessen Unschuld. Dem ihm wohlgesinnten Generalstab fiel er damit in den Rücken und machte sich auf einen Schlag all die zu Feinden, die ihm einen schönen Aufstieg bereiten und ihn zu den Sternen hätten bringen können, jenen Sternen aus purem Gold, die auf die Epauletten der Uniformen genäht werden. Das ist jetzt alles Geschichte, große Geschichte, wie man so sagt, aber eine, die häufig in Vergessenheit gerät und auf die man nur rein zufällig wieder stößt, wenn man auf Dachböden oder in altem Gerümpel stöbert. Es geschah beim Tod meines Vaters im Jahr 1926. Ich hatte in das baufällige Haus zurückkehren müssen, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Ich wollte nicht lange dort bleiben. Mein Vater war für mich bloß ein weiterer Toter, und mein Konto war wirklich schon voll. Dieses Haus war das Haus meiner Toten, meiner Mutter, Gott sei ihrer Seele gnädig, gestorben vor langer Zeit, als ich noch ein kleiner Bengel war, und nun meines Vaters. Es war nicht mehr das Haus meiner Kindheit. Es hatte den Geruch eines Grabes angenommen. Sogar das Dorf sah nicht mehr aus wie das Dorf, das ich gekannt hatte. Nach dem Krieg waren fast alle Einwohner weggegangen, hatten nach vier Jahren Bombardement die ausgehöhlten Häuser und Straßen, löchrig wie ein Schweizer Käse, hinter sich gelassen. Zurückgeblieben waren nur mein Vater, für den Weggehen bedeutet hätte, den Boches noch nach ihrer Niederlage einen Triumph zu lassen, und Fantin Marcoire, ein Alter, der nicht alle Tassen im Schrank hatte, mit den Forellen sprach und mit einer uralten Kuh zusammenlebte, die er Madame nannte. Die Kuh und er schliefen nebeneinander im Stall. Sie waren sich inzwischen ähnlich geworden, was den Geruch und dergleichen betraf, außer dass die Kuh wahrscheinlich mehr Grips hatte und weniger zornig war als er. Fantin hasste meinen Vater. Und der zahlte es ihm mit gleicher Münze heim. Zwei Verrückte in einem Geisterdorf, die sich über die Ruinen hinweg beschimpften und sich manchmal mit Steinen bewarfen, wie Schuljungen mit faltiger Stirn und krummen Beinen. Jeden Morgen vor Sonnenaufgang ließ Fantin Marcoire seine Hose herunter und schiss vor die Tür meines Vaters. Und jeden Abend wartete mein Vater ab, bis Fantin Marcoire sich an der Flanke seiner Kuh schlafen gelegt hatte, um das Gleiche vor seiner Tür zu tun. Das ging jahrelang so. Ein Ritual. Eine Art
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