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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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brachte Joséphine ihm ihre Beute. Die Gerüche nahm sie nicht mehr wahr. Und den Männern die kalte Schulter zu zeigen und ihnen aus dem Weg zu gehen hatte sie schon vor Ewigkeiten beschlossen, denn sie war ihr Leben lang nur mit sich selbst verheiratet gewesen. El-Crochemort empfing sie wie eine Königin, das hat sie mir selbst erzählt. Bot ihr ein Glas AperitifWein an, sprach mit Anmut vom Regen, den Fellen, vom schönen Wetter und lächelte sie mit jenem Lächeln an, das ich bereits erwähnt habe. Dann zahlte er sie aus, half ihr beim Abladen des Karrens und begleitete sie schließlich wie ein Kavalier zur Straße zurück. Joséphine wohnte seit zwanzig Jahren am äußersten Ende der Rue des Chablis, fast schon in den Feldern. Kein Haus, nein, nur ein paar vom Regen geschwärzte Bretter, die wie durch ein Wunder zusammenhielten. Eine Hütte, schwarz wie Kohle, die den Schulbuben Angst einjagte und von der man annahm, sie sei bis unters Dach voll mit stinkenden Fellen, verendeten Tieren, gevierteilten Vögeln und Mäusen, die mit ausgestreckten Beinchen auf kleine Holzbretter genagelt waren. Niemand setzte je seinen Fuß über die Schwelle.
    Ich bin zweimal bei ihr gewesen. Es war kaum zu glauben. Es war, als durchschritte man die Tore der Finsternis und käme in ein Reich des Lichts. Es hätte ein Puppenhaus sein können, alles war blitzsauber, in Rosa gehalten, und hier und da waren kleine, gekräuselte Schleifchen angebracht.
    «Hättest du es vielleicht vorgezogen, dass ich im Dreck lebe?», hat Joséphine bei meinem ersten Besuch gesagt, als ich den Mund nicht mehr zubekam und meine Augen von rechts nach links wandern ließ. Auf einem Tisch mit einer schönen Decke stand ein Strauß Iris, und an den Wänden hingen Heilige und Engel in bunten Bilderrahmen von der Art, wie der Pfarrer sie den Kommunionkindern und Messdienern schenkt. «Glaubst du denn daran?», habe ich Joséphine damals gefragt und mit dem Kinn auf die anmutige Galerie gewiesen. Sie zuckte die Achseln, weniger aus Spott, als um mir eine Selbstverständlichkeit zu bestätigen, etwas, das keiner Argumentation bedurfte.
    «Hätte ich schöne Töpfe aus Kupfer, würde ich die aufhängen, das würde auch hübsch wirken. Man hätte das Gefühl, dass die Welt nicht nur hässlich ist, sondern dass es ab und zu einen kleinen goldenen Schimmer gibt und dass das Leben im Grunde nichts weiter ist als die Suche danach.»
    Ich habe ihre Hand auf meiner Schulter gespürt. Dann ihre andere Hand. Schließlich die Wärme von Wollstoff. «Warum kommst du hierher, Dadais?» Josephine hatte mich schon immer, seit wir sieben Jahre alt waren, mit diesem Kosenamen angeredet, aber ich habe nie erfahren warum. Fast hätte ich ihr geantwortet und mich in langen Sätzen verstrickt, im Hemd, neben dem Wasser, mit den nackten Füßen im Schnee. Aber meine Lippen zitterten vor Kälte, und plötzlich fühlte ich mich so steif, als könnte ich diesen Ort nie mehr verlassen. «Kommst du oft hierher?»
    «Ich gehe hier vorbei, das ist nicht dasselbe. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe getan, was ich tun musste. Ich habe meine Rolle gespielt, das weißt du.» «Aber ich habe dir geglaubt!»
    «Da warst du allerdings der Einzige ...» Joséphine hat meine Schultern massiert. Sie hat mich geschüttelt, und der Schmerz, der durch das in meine Adern zurückströmende Blut einsetzte, traf mich wie ein Peitschenhieb. Dann hat sie meinen Arm genommen, und wir sind gegangen, ein seltsames Paar im Schnee an einem Wintermorgen. Wir gingen wortlos. Manchmal sah ich ihr altes Gesicht an und suchte darin vergeblich nach den Gesichtszügen des jungen Mädchens. Ich ließ mir ihre Hilfe gefallen wie ein Kind. Gern hätte ich die Augen geschlossen und im Stehen geschlafen, während ich einen Fuß vor den anderen setzte, und tief im Inneren hoffte ich, ich würde nie mehr die Augen öffnen müssen und immer so weitergehen können, in den Tod oder auf einen langen Spaziergang ohne Ende und Ziel. Bei mir zu Hause setzte Joséphine mich entschlossen in einen Sessel und packte mich wie einen Säugling in drei dicke Mäntel ein. Dann ging sie in die Küche. Ich hielt meine Füße an den Ofen. Nach und nach kehrte alles in meinen Körper zurück, die Zärtlichkeit, das Leid, die Brüche, die Schrunden. Sie brachte mir eine kochend heiße Trinkschale, die nach Pflaumenschnaps und Zitrone duftete. Ich trank wortlos. Dann trank sie ebenfalls. Sie leerte die Schale und schnalzte mit der

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