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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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zu dem Gendarmen aus der Stadt um. «Bestellen Sie ihm meine besten Empfehlungen.» Der Angesprochene fällt aus allen Wolken: «Wem denn, Herr Richter?» Mierck sah ihn an, als hätte er statt eines Gehirns Bohnen im Kopf. «Wem? Na dem, der die Eier gekocht hat, mein Freund. Sie waren hervorragend, was denken Sie, nehmen Sie Haltung an!» Der Gendarmaus der Stadt salutierte. Wenn der Richter andere mit «mein Freund» anredete, wollte er wohl sagen, dass sie in Wahrheit ganz und gar nicht seine Freunde waren. Er war ein Meister in der Kunst, die Worte so zu gebrauchen, dass sie etwas ausdrückten, wofür sie eigentlich nicht bestimmt waren. Wir hätten noch lange so stehen bleiben können, der Richter, der Gendarm mit den Eiern, Crouteux, Brechuts Sohn, Grosspeil, Berfuche und ich, an den der Richter wie üblich noch kein einziges Wort gerichtet hatte. Einige Augenblicke zuvor war der Arzt gegangen, mit seiner Ledertasche und seinen Ziegenlederhandschuhen. Er hatte Belle de Jour, oder vielmehr ihre Hülle, die Hülle ihres Mädchenkörpers, unter der nassen Decke liegen lassen. Der Kanal floss noch immer rasch vorbei. Da habe ich mich an einen griechischen Spruch erinnert, ohne dass er mir wörtlich in den Sinn kam, der von der Zeit handelt und vom fließenden Wasser, einige einfache Worte, die alles über das Leben sagen und vor allem deutlich zu verstehen geben, dass man im Leben nie zurückkann. Gleich, was man tut.
    Schließlich kamen zwei Sanitäter, die in ihren weißen Kitteln erbärmlich froren. Sie kamen aus V. und waren lange in der Gegend herumgefahren, bevor sie die richtige Stelle fanden. Der Richter winkte sie herbei und zeigte auf die Decke. «Sie gehört Ihnen!», rief er ihnen entgegen. Da bin ich gegangen.
    Und doch musste ich ans Ufer zurück. Ich musste meine Arbeit tun. Ich habe die ersten Nachmittagsstunden abgewartet. Die schneidende Morgenkälte war vergangen: Es war nun beinahe mild, schien fast nicht mehr derselbe Tag. Grosspeil und Berfuche waren von zwei anderen Gendarmen abgelöst worden, die den Tatort bewachten und Gaffer fern hielten. Sie grüßten mich. Zwischen den Algen schwammen Plötzen; von Zeit zu Zeit kam eine an die Oberfläche, um von der Luft zu kosten, dann schwamm sie schwanzschlagend wieder weg. Im Gras glitzerten zahllose Wassertropfen. Alles sah verändert aus: Man konnte den Abdruck, den Belle de Jour auf der Böschung hinterlassen hatte, schon nicht mehr erkennen. Nichts mehr davon. Zwei Enten stritten sich um ein Kressekissen. Die eine kniff schließlich der anderen mit dem Schnabel in den Hals, und diese flog, Klagegeschrei hinter sich lassend, auf und davon.
    Ich habe eine Weile herumgetrödelt und an nichts Bestimmtes gedacht, außer vielleicht an Clemence und das Kleine in ihrem Bauch. Übrigens schämte ich mich ein wenig, daran erinnere ich mich noch, dass ich an sie und an unser Glück dachte, während ich in der Nähe der Stelle herumstöberte, an der ein kleines Mädchen ermordet worden war. Ich wusste, dass ich sie in wenigen Stunden wieder sehen würde, sie und ihren Bauch, der so rund war wie ein schöner Kürbis, diesen Bauch, in dem ich, wenn ich das Ohr daran legte, das Klopfen des Kindes hören und seine schläfrigen Bewegungen spüren konnte. An diesem eisigen Tag war ich wahrscheinlich der glücklichste Mann auf der Welt, inmitten jener Männer in unserer Nähe, die so selbstverständlich töteten und starben, wie man atmet, in der Nähe eines gesichtslosen Mörders, der zehnjährige Lämmchen erdrosselte. Ja, der Glücklichste. Ich schämte mich nicht dafür.
    Das Seltsame an den Ermittlungen war, dass sie allen und niemandem übertragen wurden. Mierck kochte sich sein Süppchen daraus. Der Bürgermeister steckte die Nase hinein. Die Gendarmen schnupperten von weitem, aber vor allem gab es da einen Oberst, der sich des Manövers annehmen sollte. Er tauchte am Tag nach dem Verbrechen auf und nahm den Krieg und die nahe Front zum Anlass, uns zu erklären, er habe die Befugnis, Befehle zu erteilen. Er hieß Matziev, ein irgendwie russisch klingender Name, sah aus wie ein neapolitanischer Tänzer, hatte eine ölige Stimme, glänzende, nach hinten gekämmte Haare, einen dünnen Schnurrbart, ein elegantes Auftreten, federnde Beine und den Oberkörper eines griechischen Ringers. Kurz, ein Apoll mit Dienstgrad.
    Wir haben sofort erkannt, mit wem wir es zu tun hatten: ein Liebhaber des Blutes, aber einer, der auf der richtigen Seite stand, da, wo man es

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