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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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Der tief hängende Himmel rollte schwere Walzen über die Anhöhe, und die Fabrik, die sonst zornig knatterte, gab eine hübsche, summende Melodie von sich. Eine neue Welt. Oder der erste Morgen einer neuen Welt. Als wäre man der erste Mensch. Vor allem Schmutz, vor allen Spuren von Füßen und Missetaten. Ich kann das nicht gut ausdrücken. Zu Lebzeiten sprach ich kaum. Ich schreibe «zu Lebzeiten», als sei ich schon gestorben. Im Grunde ist das wahr. Lange schon fühle ich mich tot. Ich tue so, als lebte ich noch ein wenig weiter. Ich habe eine Gnadenfrist, das ist alles.
    Meine Beine sind vom Rheumatismus gepeinigt, aber sie wissen noch, was sie wollen. Sie führen mich im Kreis herum, bringen mich ins Herz des Geschehens zurück. Durch ihre Schuld fand ich mich am Ufer des kleinen Kanals wieder, der ein grünes, mit schmelzenden Sternen geschmücktes Netz ins Weiß zeichnete. Ich sank im Schnee ein und dachte an die Beresina. Solch ein Epos hätte ich womöglich nötig gehabt, um mich davon zu überzeugen, dass das Leben einen Sinn hatte, dass ich mich in der richtigen Richtung bewegte, dass ich Recht hatte, meinen Abgang so viele Male aufzuschieben, wenn ich im letzten Augenblick den Lauf von Gachentards Karabiner wieder herauszog, den ich mir an jenen Morgen in den Mund gesteckt hatte, an denen ich mich leer fühlte und ausgetrocknet. Der Geschmack eines Gewehrs ... das ist etwas Seltsames! Die Zunge bleibt daran kleben. Es prickelt. Ein Geschmack nach Wein und klarem Felswasser.
    Hier hatten Marder miteinander gekämpft. Ihre Pfoten mit den überlangen Krallen hatten Kalligraphien und Arabesken hinterlassen, Wörter eines Verrückten auf dem Schneemantel. Ihre Bäuche hatten so etwas wie Rinnen gezogen, zarte Spuren, die auseinander liefen, sich kreuzten, ineinander verschmolzen, um sich sogleich wieder zu trennen, und plötzlich endeten, als seien die beiden Tiere, sobald das Spiel vorbei war, plötzlich zum Himmel aufgeflogen.
    «So alt und immer noch so ein Kindskopf ...» Ich habe geglaubt, die Kälte spiele mir einen Streich. «Willst du dir den Tod holen?», sagte die Stimme weiter, die wie aus der Ferne zu mir drang, nur raue Konsonanten und Münzgeklingel. Unnötig, mich umzudrehen, um zu sehen, wer mich da ansprach. Joséphine Maulpas. In meinem Alter. Aus demselben Dorf wie ich. Mit dreizehn war sie hier angekommen, bis zum Alter von zwanzig Jahren ein Hausmädchen, das von einer wohlhabenden Familie zur nächsten wanderte, dabei zunehmend an der Flasche hing, bis sie ihr verfiel und keine Anstellung mehr finden konnte. Überall vor die Tür gesetzt, hinausgeworfen, entlassen, ausgesperrt, erledigt. Zu guter Letzt blieb ihr nichts anderes übrig als der Handel mit stinkenden, noch blutigen Fellen von Kaninchen, Maulwürfen, Wieseln, Frettchen, Füchsen, von allen möglichen Tieren, die sie sämtlich frisch mit dem Taschenmesser enthäutet hatte. Dreißig Jahre und länger zog sie über die Straßen, mit ihrem unförmigen Karren, und schrie den Refrain: «Kaninchenfelle! Tierfelle! Kaninchenfelle!» Dabei nahm sie selbst immer mehr den Fleischgeruch und den Gesichtsausdruck der abgeschlachteten Tiere an, deren violette Hautfarbe und stumpfe Augen. Und doch war sie einst bildhübsch gewesen.
    Joséphine, die von den Schulbuben La Peau, die Haut, genannt wurde, verscherbelte ihre Schätze für ein paar Kröten an Elphege Crochemort, der sie in einer alten Mühle am Ufer der Guerlante gerbte, sechs Kilometer flussaufwärts von uns. Eine alte Mühle, eine halbe Ruine, die dennoch ein ums andere Jahr stehen blieb. Crochemort kam selten in die Stadt. Aber wenn er dort auftauchte, verlor man seine Spur nicht. Es war ohne Mühe zu erraten, wo er entlanggegangen war, so fürchterlich stank er, als sei er ganze Tage in seinen Alkalibädern mariniert worden. Er war ein schöner, hoch gewachsener Mann mit glänzendem schwarzem, nach hinten gekämmtem Haar und lebhaften, azurblauen Augen. Ein schöner und allein stehender Mann. Ich sah in ihm einen ewigen Verdammten von der Art, wie es sie, so sagt man, bei den Griechen gegeben hat, die Steine wälzen oder sich die Leber auspicken lassen. Vielleicht hatte Crochemort auch wirklich ein Verbrechen begangen, das ihn nicht zur Ruhe kommen ließ? Vielleicht bezahlte er auf diese Weise dafür, mit seiner Einsamkeit und seinen stinkenden Kadavern, obwohl ihm alle Frauen zu Füßen gelegen hätten, hätte er sich nur mit Lavendel und Jasmin eingerieben.
    Jede Woche

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