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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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Weg, Rue Marville, Place de la Prefecture, Allee Baptiste-Villemaux, Rue Plassis, Rue d'Autun, Square Fidon, Rue des Bourelles. Le Grave fuhr in zwanzig Meter Abstand hinter ihm her und zügelte die beiden Pferde, die unruhig auf der Stelle traten und auf die Straße äpfelten. Von einigen Leuten wurde Destinat gegrüßt; dann neigte er leicht den Kopf, wechselte aber nie ein Wort mit ihnen.
    Mittags betrat er den Rébillon, wo Bourrache ihn empfing. Er hatte noch immer seinen Tisch, aß unabänderlich die gleichen Speisen und trank den gleichen Wein wie zu der Zeit, als er noch Köpfe abschneiden ließ. Der Unterschied bestand darin, dass er sich nach dem Kaffee Zeit nahm. Der Speisesaal leerte sich, Destinat blieb sitzen. Dann winkte er Bourrache herbei, er solle ihm Gesellschaft leisten. Der Wirt griff nach zwei kleinen Gläsern, einer der besten Flaschen Obstgeist und nahm dem Staatsanwalt gegenüber Platz. Er füllte die Gläser und kippte seines hinunter. Destinat hingegen schnupperte bloß an dem Alkohol, führte ihn aber nie an die Lippen. Dann unterhielten sich die beiden.
    «Und worüber?», habe ich eines Tages, aber erst sehr viel später, Bourrache zu fragen gewagt. Sein Blick ging ins Weite. Es schien, als betrachte er ein entferntes Geschehen oder ein verschwommenes Bild. Seine Augen begannen zu glänzen. «Über meine Kleine», sagte er, und Tränen liefen über seine schlecht rasierten Wangen.
    «Vor allem der Staatsanwalt sprach, ich hörte meist zu. Man hätte meinen können, er habe sie besser gekannt als ich, obwohl ich nie gesehen hab, dass sie auch nur ein Wort an ihn richtete, als sie noch unter uns weilte. Sie sagte kaum ein Wort, wenn sie ihm das Brot brachte oder eine Karaffe mit Wasser. Aber er schien alles über sie zu wissen. Er beschrieb mir ihr Äußeres, erzählte von ihrer Gesichtsfarbe, ihren Haaren, ihrer Vogelstimme, der Form und Farbe ihres Mundes, und er nannte die Namen von Malern der Vergangenheit, die ich nicht kannte, und sagte, sie hätte auf deren Bildern gemalt sein können. Dann stellte er mir alle möglichen Fragen, über ihr Wesen, ihre Angewohnheiten, ihre Kinderwörter, ihre Krankheiten, ihre ersten Jahre, und ich musste erzählen und erzählen, er ließ nie locker.
    Es war immer das Gleiche: , fing er an. Ich legte keinen Wert darauf, mir tat das Herz davon jedes Mal so weh, dass der Schmerz den ganzen Tag und auch den Abend über anhielt, aber ich traute mich nicht, dem Staatsanwalt das zu sagen, also erzählte ich. Eine Stunde, zwei Stunden, ich glaube, ich hätte tagelang reden können, und es wäre ihm nie zu viel geworden. Ich fand seine Leidenschaft für meine tote Kleine eigenartig, aber ich dachte, das muss wohl das Alter sein, er wird ein wenig wunderlich, das ist alles, und dass ihm die Tatsache, dass er allein war und kein Kind hatte, keine Ruhe ließ.
    Einmal fragte er mich sogar, ob ich nicht eine Fotografie von der Kleinen hätte, die ich ihm geben könne. Was denken Sie denn, Fotografien, die sind teuer, und damals machte man kaum welche. Ich hatte nur drei, und auf einer waren meine drei Töchter zu sehen. Belles Patentante hatte sie haben wollen und auch bezahlt. Sie hatte sie zu Isidorc Kopieck gebracht, wissen Sie, dem Russen in der Rue des Etats. Er hatte sie posieren lassen, die beiden Großen sitzen auf dem Boden in einer Dekoration aus Gras und Blumen, und Belle steht in der Mitte, lächelnd und voll Anmut, eine richtige heilige Jungfrau. Ich hatte drei Abzüge dieser Fotografie, für jedes Mädchen eine, und so habe ich dem Staatsanwalt Belles Abzug gegeben. Wenn Sie ihn gesehen hätten: Er sah aus, als hätte ich ihm einen Goldschatz geschenkt. Fing an, am ganzen Körper zu zittern, bedankte sich in einem fort und schüttelte mir die Hand, als wollte er sie ausreißen.
    Das letzte Mal kam er eine Woche vor seinem Tod. Wieder dasselbe Ritual, die Mahlzeit, der Kaffee, der Obstler, das Gespräch. Seine beständig gleichen Fragen. Aber dann sagt er, nach langem Schweigen und beinahe flüsternd, und es klingt wie ein Sinnspruch: Dann ist er langsam aufgestanden und hat mir lange die Hand gedrückt. Ich half ihm in den Mantel, er nahm seinen Hut und hat sich im ganzen Saal umgeschaut, als wollte er ihn ausmessen. Ich öffnete die Tür

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