Die grauen Seelen
keine Anzeige. Keiner hatte etwas gemerkt.
«Sie sind nicht mehr da», sagt Meyer. «Und seit wann sind sie nicht mehr da?», frage ich. Da sieht er seinen Stift an, nuschelt etwas, und ich muss
die Ohren spitzen, um ihn zu verstehen.
»Sie sind nach England gegangen, vor etwa zwei
Monaten.»
England war, vor allem zu Kriegszeiten, fast das Ende
der Welt. Und zwei Monate zuvor, das war kurz nach
dem Verbrechen.
«Und warum?»
«Man hat es ihnen befohlen.»
«Wer?»
«Der Direktor.»
«War ihre Abreise geplant?»
Meyer zerbricht den Stift. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn.
«Wär besser, wenn du jetzt gehst», sagt er. «Ich habe meine Anweisungen, und auch wenn du Polizist bist: Verglichen mit den Hechten bist du doch nur ein kleiner Fisch.»
Ich wollte nicht weiter in ihn dringen. Ich habe ihn mit seiner Verlegenheit allein gelassen, weil ich glaubte, am nächsten Tag würde ich meine Fragen dem Direktor selbst stellen können.
Aber es kam nicht so weit. Am fraglichen Morgen überbrachte man mir bei Tagesanbruch eine Nachricht. Der Richter wolle mich sehen, so schnell wie möglich. Ich wusste warum. Die Neuigkeit hatte sich in Windeseile verbreitet.
Wie gewöhnlich empfing mich Crouteux, wie gewöhnlich ließ man mich eine gute Stunde im Vorzimmer schmoren. Hinter der ledergepolsterten Tür hörte ich Stimmen, fröhliche Stimmen, wie mir schien. Als Crouteux zurückkam und mir sagte, der Herr Richter werde mich nun empfangen, war ich gerade dabei, mit dem Finger ein Stück rote Seidentapete abzukratzen, die sich von der Wand löste. Ich hatte bereits gut vierzig Zentimeter heruntergeschält und in kleine Streifen zerrissen. Der Gerichtsschreiber sah mich überrascht und gequält an, mit einem Ausdruck, der Kranken vorbehalten ist, sagte aber nichts. Ich folgte ihm. Mierck saß in seinem Sessel, den Oberkörper zurückgelehnt. Zu seiner Seite Matziev wie ein längerer, dünnerer Doppelgänger, ein Seelenverwandter. Man gewann den Eindruck, die beiden Scheusale hätten sich ineinander verliebt, denn sie wichen einander nicht mehr von der Seite. Matziev zögerte seine Abreise hinaus. Er wohnte noch immer bei Bassepin und machte uns mit seinem Grammophon ganz benommen im Kopf. Wir mussten bis Ende Januar warten, dass er endlich verschwand. Mierck ging schnurstracks auf mich los. «Mit welchem Recht sind Sie in die Fabrik gegangen», kläffte er. Ich antwortete nicht.
«Wonach suchen Sie noch? Der Fall ist gelöst, die Schuldigen haben bezahlt!»
«In der Tat, das sagt man», antwortete ich, was ihn noch
mehr in Rage brachte.
«Was? Was unterstellen Sie da?»
«Ich unterstelle gar nichts. Ich tue nur meine Arbeit.» Matziev spielte mit einer Zigarre herum, die er noch nicht angezündet hatte. Mierck ging abermals zum Angriff über. Er sah aus wie ein Spanferkel, dessen Eier zwischen zwei Ziegelsteinen eingequetscht wurden. «Genau, tun Sie Ihre Arbeit und lassen Sie anständige Leute in Frieden. Wenn ich noch einmal höre, dass Sie, wem auch immer, Fragen zu diesem erledigten und abgeurteilten Fall stellen, dann werde ich Ihre Absichten zu verhindern wissen. Ich kann allerdings verstehen», fuhr er mit sanfterer Stimme fort, «dass Sie unter den gegenwärtigen Umständen nicht ganz Herr Ihrer selbst sind, der Tod Ihrer jungen Gattin, der Schmerz ...» Als ich ihn von Clémence sprechen hörte, als er ihr Bild, ihren Namen heraufbeschwor, traf es mich wie ein Schlag. «Schweigen Sie», befahl ich. Er riss die Augen auf, lief puterrot an und zeterte wütend weiter.
«Wie bitte? Sie wagen es, mir Befehle zu erteilen? Sie?» «Sie können mich mal», erwiderte ich. Mierck hätte sich fast an seinem Stuhl die Visage eingeschlagen. Matziev musterte mich, sagte nichts, zündete die Zigarre an und schüttelte dann lange das Zündholz, ob-wohl es schon erloschen war.
Draußen auf der Straße schien die Sonne. Ich fühlte mich leicht angeheitert und hätte gern mit jemandem geplaudert, mit einem Vertrauten, der die Dinge so sah wie ich. Ich spreche nicht von der Affäre. Ich meine das Leben, die Zeit, alles und nichts.
Da fiel mir Mazerulles ein, der Sekretär des Schulinspektors, den ich nach dem Tod Lysia Verhareines aufgesucht hatte. Es wäre jetzt Balsam für mich gewesen, seine Rübe wieder zu sehen, seine graue Gesichtsfarbe, seine Augen, die feucht aussahen wie bei einem Hund in Erwartung der Hand, die ihn streicheln wird. Ich schlug den Weg Richtung Place des Carmes ein, wo sich das Gebäude der
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