Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
Vom Netzwerk:
wissen Sie.» Er ließ seinen Satz verklingen, ohne ihm ein Ende geben zu wollen oder zu können. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte schon so lange kein Wort mehr an ihn gerichtet, dass ich nicht genau wusste, wie man das machte.
    Er stocherte mit der Spitze seines Stocks im Gras auf der Böschung herum, kam ein wenig näher und musterte mich, nicht bösartig, aber krankhaft eindringlich. Das Seltsamste war, dass mir dieser Blick nicht peinlich war, sondern eher wohltuend wirkte, friedlich, beruhigend, wie wenn ein Arzt, den man seit der Kindheit kennt, einen untersucht.
    «Sie haben mich nie gefragt, ob ...» Wieder brachte er seinen Satz nicht zu Ende. Ich sah, wie seine Lippen leicht bebten und seine Augen wegen des Lichts eine Sekunde lang blinzelten. Ich wusste genau, worüber er sprechen wollte. Wir verstanden uns perfekt. «Hätte ich eine Antwort bekommen?», fragte ich und ließ meine Worte nicht weniger schleppen als er seine. Er atmete tief ein, ließ in der linken Hand seine Uhr, die an einer Kette hing und an der ein eigenartiger, winziger Schlüssel befestigt war, klingen, sah in die Ferne, zum Himmel hinauf, der von einem schönen Hellblau war, und blickte dann rasch zu mir zurück. «Man muss den Antworten misstrauen, sie sind nie das, was man haben will, finden Sie nicht auch?» Dann kickte er einen Moosballen, den er mit dem Stock gelöst hatte, mit der Schuhspitze ins Wasser. Weiches Moos, von einem frischen Grün, das in einem Strudel Walzer tanzte, bevor es zur Mitte des Kanals trieb und verschwand.
    Ich wandte mich zu Destinat zurück. Er war verschwunden.

    Das Leben fing wieder an, wie man so sagt, und der Krieg ging zu Ende. Nach und nach leerten sich das Krankenhaus und unsere Straßen. Die Cafés machten schlechtere Geschäfte, und Agathe Blanchard hatte weniger Kunden. Söhne und Ehemänner kehrten zurück. Einige gesund, andere schwer beschädigt. Und obwohl viele nie wieder auftauchten, bestand bei manchen entgegen aller Wahrscheinlichkeit noch immer die Hoffnung, man könnte sie eines Tages um die Straßenecke biegen sehen. Die Familien, deren Angehörige in der Fabrik arbeiteten, hatten den Krieg ohne allzu große Sorgen und Entbehrungen überstanden. Die anderen hatten vier entsetzliche Jahre hinter sich. Dieser Graben vertiefte sich weiter, wenn ein paar Tote darin vermodert waren. Manche sprachen nicht mehr miteinander. Andere begannen sich zu hassen. Bassepin zog seinen Handel mit Ehrenmalen auf. Eines der ersten, das er lieferte, war übrigens das in unserer Stadt: ein Frontsoldat mit der Fahne in der Linken und dem Gewehr in der Rechten, der seinen ganzen, aufs leicht gebeugte Knie gestützten Körper weit nach vorne reckt, neben sich einen riesigen, stolzen gallischen Hahn, festgehalten in einem Augenblick, da er, hoch auf die Sporne aufgerichtet, aus Leibeskräften loskräht. Der Bürgermeister weihte das Ehrenmal am 11. November 1920 ein. Er hielt eine mit Tremolos, rhetorischen Höhenflügen und Augenrollen verzierte Rede, dann las er die Namen der dreiundvierzig armen Teufel aus unserem Städtchen vor, die für das Vaterland gefallen waren, und machte nach jedem Namen eine Pause, damit Aimé Lachepot, der Feldhüter, einen dumpfen Trommelwirbel schlagen konnte. Frauen in Schwarz weinten. Kleine Kinder fassten ihre Hände und versuchten, sie zu Margot Gagneures Laden hinüberzuziehen, der wenige Schritte entfernt alle Arten von Kleinkram feilbot, insbesondere Lakritzstangen und Honiglutscher.
    Dann wurde die Fahne gehisst. Die Musikkapelle spielte eine düstere Melodie, und alle hörten aufrecht und mit starrem Blick zu. Sobald der letzte Takt verklungen war, eilten sie zum Bürgermeisteramt, wo ein Ehrenumtrunk gereicht wurde. Man vergaß die Toten bei Schaumwein und Pastetenbroten, unterhielt sich und begann sogar wieder zu lachen. Nach einer Stunde ging man schließlich auseinander und bereitete sich darauf vor, Jahr für Jahr die Komödie der schweren Herzen und der traurigen Erinnerung zu spielen.
    Auch Destinat war bei der Feier zugegen, stand in der ersten Reihe zwei Meter vor mir. Aber ins Bürgermeisteramt kam er nicht. Langsam ging er zurück ins Schloss. Obwohl er seit gut vier Jahren in Pension war, fuhr er noch immer von Zeit zu Zeit nach V. Le Grave ließ für zehn vor zehn anspannen. Um Punkt zehn kam Destinat herunter, setzte sich in die Kutsche, und los ging's. In der Stadt angelangt, spazierte er dann durch die Straßen, immer den gleichen

Weitere Kostenlose Bücher