Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
Vom Netzwerk:
Schulbehörde befand. Ich hatte es nicht eilig.
    Ein unbestimmtes Gewicht war von mir genommen, und mir trat wieder vor Augen, wie Miercks Gesicht ausgesehen hatte, während ich ihn zum Teufel gewünscht hatte. Wahrscheinlich war er bereits damit beschäftigt, von den Vorgesetzten meinen Kopf zu fordern. Es war mir egal.
    Als ich den Hausmeister fragte, ob Mazerulles noch dort beschäftigt sei, hielt er seine Brille fest, die ständig hinunterzurutschen drohte.
    «Monsieur Mazerulles ist vor einem Jahr von uns gegangen», war seine Antwort.
    «Ist er denn noch in V.?», fragte ich weiter. Der Kerl hat mich angesehen, als käme ich vom Mond: «Ich denke, er wird sich wohl nicht vom Friedhof wegbewegt haben, aber Sie können ja mal hingehen und nachsehen.»

    XXI

    Die Wochen vergingen, es wurde Frühling. Jeden Tag ging ich zweimal zu Clemences Grab. Am Morgen und kurz bevor es Abend wurde. Ich sprach mit ihr. Im Plauderton des alltäglichen Gesprächs, in dem Liebesworte keine großartigen Verzierungen und schönen Zurichtungen brauchen, um zu funkeln wie Gold, erzählte ich ihr von meinem Tagesablauf, als lebte sie fürderhin an meiner Seite.
    Ich hatte daran gedacht, alles, meine Arbeit und das Haus, aufzugeben und wegzugehen. Aber dann fiel mir ein, dass die Erde rund ist und ich sehr bald im Kreis gehen würde, kurz, dass Weggehen dumm wäre. Ich hatte ein wenig auf Mierck gezählt, der mir zu einer Reise in fremde Länder verhelfen sollte. Ich hatte vermutet, er würde sich rächen wollen und bestimmt einen Weg finden, mich versetzen oder auf die Straße werfen zu lassen. Ich war ein Feigling, in der Tat. Eine Entscheidung, die nur ich allein treffen konnte, legte ich in fremde Hände. Aber Mierck unternahm nichts, jedenfalls nichts, das Erfolg gehabt hätte. Man schrieb das Jahr 1918. Es roch nach dem Ende des Krieges. Heute, da ich das aufschreibe, ist es leicht, so etwas zu sagen, weil ich weiß, dass er wirklich 1918 zu Ende war, aber ich glaube, ich irre mich nicht. Man ahnte das Ende, und daher wurden die letzten Transporte mit Verwundeten und Toten, die bei uns durchfuhren, noch schrecklicher und sinnloser. Die kleine Stadt war weiterhin voll Verletzter und Verstümmelter, die man mehr schlecht als recht zusammengeflickt hatte. Das Krankenhaus wurde nicht leer, wie ein teures Hotel in einem Seebad, das man sich unter Angehörigen der feinen Gesellschaft weiterempfiehlt. Außer dass hier seit vier Jahren ohne Pause Hauptsaison war. Manchmal sah ich von weitem Madame de Flers, und mein Herz schlug heftiger, als könnte sie, wenn sie mich sähe, wie damals auf mich zukommen und mich an Clémences Bett führen. Jeden Tag oder doch beinahe täglich ging ich ans Ufer des kleinen Kanals und fuhr fort, wie ein eigensinniger oder begriffsstutziger Hund dort herumzustöbern, weniger um neue Details zu entdecken als in der Hoffnung, die Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Häufig erahnte ich Destinats hohe Gestalt hinter den Mauern des Parks, und ich wusste, dass er mich dort auf und ab gehen sah. Seit er in Pension gegangen war, verließ er sein Haus so gut wie nie mehr und empfing noch seltener Gäste als früher. Das heißt, er empfing niemanden mehr und verbrachte seine Tage schweigend, noch nicht einmal lesend, am Schreibtisch sitzend, mit verschränkten Händen – das hat Barbe mir gesagt – und sah aus dem Fenster oder drehte seine Runden im Park wie ein einsames Tier. Im Grunde unterschieden wir uns nur wenig voneinander.
    Eines Tages, am 13. Juni, als ich wieder einmal die Böschung entlanggegangen war und die Brücke passiert hatte, hörte ich das Gras hinter mir rascheln. Ich drehte mich um. Er war es. Noch größer als in meiner Erinnerung, mit glatt aus der Stirn gekämmtem Haar von einem beinahe weißen Grau, schwarz gekleidet und mit makellos gewienerten Schuhen, in der rechten Hand einen Stock mit kurzem Elfenbeinknauf. Er sah mich an und blieb stehen. Ich glaube, er hatte darauf gewartet, dass ich vorbeikommen würde, und war in diesem Moment aus der hinteren Tür seines Parks getreten. Eine Weile sahen wir uns an, ohne etwas zu sagen, so wie Wilde sich mustern, bevor sie aufeinander losgehen, oder wie alte Freunde, die sich seit Ewigkeiten nicht gesehen haben. Ich machte keine gute Figur. Ich glaube,
    die Zeit hatte meinen Körper und mein Gesicht innerhalb
weniger Monate schlimmer gezeichnet als davor in zehn
Jahren.
Dann ergriff Destinat das Wort:
    «Ich sehe Sie oft hier,

Weitere Kostenlose Bücher