Die Grenadière (German Edition)
schönere Landschaftsbilder zu finden waren, denn die Wolken erglänzten beinahe wie die majestätischsten Gletscher der Alpen. Da zog sich ihre Stirn gewaltsam zusammen, in ihren Augen erschien ein Ausdruck von Schmerz und Gewissensbissen, sie ergriff die Hände der beiden Kinder, preßte sie an ihr heftig schlagendes Herz und rief, indem sie ihnen einen heißen Blick zuwarf: »Vater und Mutter unbekannt! Ach, ihr armen Engel, was soll aus euch werden? Und wie streng werdet ihr, wenn ihr zwanzig Jahre alt seid, Rechenschaft von mir fordern über mein Leben und über das eurige!«
Sie stieß die Kinder von sich, lehnte sich mit beiden Ellenbogen auf die Balustrade, verbarg ihr Gesicht in den Händen und blieb so einen Moment in sich versunken, als fürchtete sie, sich sehen zu lassen.
Als sie aus ihren schmerzlichen Gedanken erwachte, sah sie Louis und Marie wie zwei Engel neben ihr knien; sie suchten ihren Blick und lächelten ihr beide freundlich zu.
»Ach, warum kann ich dieses Lächeln nicht mit mir nehmen!« sagte sie und trocknete ihre Tränen.
Dann ging sie hinein und legte sich zu Bett, das sie nur verlassen sollte, um in den Sarg gelegt zu werden.
So vergingen acht Tage, von denen einer dem andern glich. Die alte Kammerfrau und Louis wachten abwechselnd nachts bei Frau Willemsens, den Blick auf das Antlitz der Kranken gerichtet. Es vollzog sich nun von Stunde zu Stunde das tief tragische Schauspiel, das jede Familie kennt, die einmal bei jedem zu starken Atemzuge einer geliebten Kranken fürchtete, daß es ihr letzter sei. Am fünften Tage der verhängnisvollen Woche ließ der Arzt auch Blumen nicht mehr zu. So ging der Schmuck des Lebens nach und nach dahin.
Von diesem Tage ab verspürten Marie und sein Bruder Feuer auf ihren Lippen, wenn sie die Mutter auf die Stirn geküßt hatten. Am Sonnabend Abend endlich konnte Frau Willemsens kein Geräusch mehr ertragen, so daß man ihr Zimmer unaufgeräumt lassen mußte. Diese Unordnung war der Beginn der Agonie dieser eleganten, auf ihre Anmut stolzen Frau. Louis wollte seine Mutter nicht mehr verlassen. Während der Nacht zum Sonntag sah Louis beim Licht einer Lampe inmitten tiefster Stille, während er seine Mutter vor Erschöpfung eingeschlafen glaubte, wie der Bettvorhang von einer blassen feuchten Hand zurückgeschoben wurde.
»Mein Sohn«, sagte sie.
Der Ton der Sterbenden hatte etwas so Feierliches und kam aus einer so heftig erregten Seele, daß er einen gewaltigen Eindruck auf das Kind machte; es empfand eine heftige Glut bis in das Mark der Knochen.
»Was wünschest du, liebe Mutter?«
»Hör mich an. Morgen wird alles mit mir zu Ende sein. Wir werden uns nicht mehr sehen. Morgen mußt du ein Mann sein, mein Kind. Ich bin genötigt, einige Anordnungen zu treffen, die ein Geheimnis unter uns beiden bleiben müssen. Nimm den Schlüssel zu meinem kleinen Tisch. Gut! Öffne jetzt die Schublade. Links wirst du zwei geschlossene Umschläge finden. Auf dem einen steht ›Louis‹, auf dem andern ›Marie‹.«
»Hier sind sie, Mutter.«
»Das sind, mein geliebter Sohn, eure beiden Geburtsurkunden; ihr werdet ihrer bedürfen. Du wirst sie meiner armen alten Fanny zum Aufbewahren geben, die sie euch wieder zustellen wird, wenn ihr sie nötig habt.«
»Und nun,« fuhr sie fort, »liegt dort nicht auch ein Papier, auf das ich ein paar Zeilen geschrieben habe?«
»Jawohl, Mutter.«
Und Louis fing an zu lesen: »Maria-Augusta Willemsens, geboren in ...«
»Genug,« sagte sie schnell, »nicht weiter. Wenn ich tot sein werde, wirst du auch dieses Papier Fanny übergeben und ihr sagen, daß sie es im Rathause von Saint-Cyr abgeben soll, damit dort ausdrücklich mein Tod bescheinigt wird. Und nun nimm dir alles Nötige, damit du einen Brief schreiben kannst, den ich dir diktieren werde.«
Als sie ihren Sohn bereit sah, der sich nach ihr umwandte, um zu hören, was sie sagen würde, diktierte sie in ruhigem Tone: »Herr Graf, Ihre Frau, Lady Brandon, ist in Saint-Cyr, nahe bei Tours, im Departement Indre-et-Loire gestorben. Sie hat Ihnen vergeben.«
»Nun unterschreibe.«
Sie stockte unentschlossen und erregt.
»Leidest du mehr?« fragte Louis.
»Unterschreibe: »Louis – Gaston.«
Sie seufzte und sprach dann weiter: »Schließe den Brief und adressiere: ›An Lord Brandon, Brandon-Square, Hydepark. London, England.‹«
»Gut«, fuhr sie fort. »Am Tage meines Todes gib diesen Brief in Tours zur Post.«
»Und jetzt«, sagte sie nach einer Pause,
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