Die Grenadière (German Edition)
sein würden, da sie beide nur eine bescheidene Summe besäßen und keinen andren Beschützer haben würden als Gott.
»Wie muß ich mich beeilen, zu lernen!« rief das Kind aus und richtete einen Blick voll tiefen Bedauerns auf seine Mutter.
»Ach, nun bin ich glücklich!« sagte sie und bedeckte ihren Sohn mit Küssen und Tränen. »Er hat mich verstanden! Louis,« fuhr sie fort, »du wirst der Beschützer deines Bruders sein, nicht wahr, du versprichst es mir? Du bist jetzt kein Kind mehr.«
»Ja,« erwiderte er; »aber du wirst noch nicht sterben, nein?«
»Vielleicht, ihr armen Kinder,« entgegnete sie, »wird mich meine Liebe zu euch aufrechterhalten. Und dann ist das Land hier so schön, die Luft so wohltuend, vielleicht ...«
»Du machst, daß ich die Touraine noch mehr liebe«, sagte das Kind ganz erschüttert.
Seit jenem Tage, an dem Frau Willemsens im Hinblick auf ihren baldigen Tod mit ihrem älteren Sohne über seine Zukunftsaussichten gesprochen hatte, wurde Louis, der jetzt sein vierzehntes Lebensjahr vollendete, weniger zerstreut, fleißiger und weniger geneigt zu spielen als vorher. Sei es, daß er Marie zu überreden wußte, lieber zu lesen als sich lärmenden Zerstreuungen hinzugeben, die beiden Kinder waren jetzt weniger laut in den Hohlwegen, Gärten und aufsteigenden Terrassen der Grenadière zu hören. Sie paßten ihre Lebensweise den trüben Gedanken ihrer Mutter an, deren Gesichtsfarbe von Tag zu Tag blasser erschien und einen gelblichen Ton annahm, deren Stirn an den Schläfen immer hohler und deren Runzeln nach jeder Nacht tiefer wurden.
Im Monat August, fünf Monate nach der Ankunft der kleinen Familie in der Grenadière, hatte sich alles verändert. Die alte Kammerfrau, die die wenn auch noch leichten Anzeichen der langsamen Verschlimmerung wahrnahm, die den Körper ihrer Herrin untergrub, welche sich nur noch durch ihre glühende Seele und die heiße Liebe zu ihren Kindern aufrechterhielt, war ernst und traurig geworden; sie schien um das Geheimnis dieses frühen Sterbens zu wissen. Oft, wenn die noch schöne und von dem Wunsch zu gefallen mehr als je beseelte Herrin ihren verfallenden Körper schmückte, Rot auflegte und in Begleitung der beiden Kinder auf der oberen Terrasse spazierenging, lehnte die alte Fanny ihren Kopf an die beiden Sadebäume beim Brunnen, ließ ihre angefangene Arbeit sinken, behielt das Wäschestück in der Hand. Sie konnte kaum ihre Tränen hemmen, wenn sie Frau Willemsens betrachtete, die der reizenden Frau, die sie vordem gewesen war, so wenig ähnlich sah.
Das hübsche, zuerst so lustige belebte Haus schien düster geworden zu sein; es war still darin, die Bewohner gingen selten aus, Frau Willemsens konnte nicht mehr ohne große Anstrengungen ihren Spaziergang bis zur Brücke von Tours ausdehnen. Louis, dessen Intelligenz sich plötzlich entwickelt, und der sich sozusagen mit seiner Mutter identifiziert hatte, deren Müdigkeit und Schmerzen er unter dem aufgelegten Rot ahnte, erfand tausend Vorwände, um einen für seine Mutter zu ausgedehnten Gang abzulehnen. Wenn die fröhlichen Paare nach Saint-Cyr, dem kleinen Courtille de Tours kamen, sahen die Gruppen von Spaziergängern oberhalb der Uferhöhen am Abend die blasse abgemagerte, ganz in Trauer gekleidete, halb schon dahingeschwundene, aber immer noch reizende Frau die sich wie ein Geist an den Terrassen hin bewegte. Große Leiden empfindet man mit. So verhielt sich auch die Familie des Weinberghüters schweigsam. Zuweilen sah man den Bauer, seine Frau und ihre beiden Kinder an der Tür ihrer Hütte stehen, wenn Fanny die Wäsche wusch; die Hausfrau und ihre Kinder befanden sich im Pavillon, aber man hörte nicht mehr das geringste Geräusch in den heiteren Gärten; und ohne daß Frau Willemsens es wahrnahm, betrachteten alle Augen sie voll Rührung. Sie war so gütig, so zuvorkommend, und dabei so hoheitsvoll gegen alle, die sich ihr näherten! Sie selbst sah seit dem Beginn des in der Touraine so schönen, so reizvollen Herbstes, dessen wohltuender Einfluß, dessen Trauben und anderen schönen Früchte das Leben dieser Mutter über den von den Verheerungen eines unbekannten Leidens gesetzten Termin hätten verlängern sollen, – sie sah nur noch ihre Kinder und kostete jede Stunde aus, als ob es ihre letzte sei.
Vom Juni bis Ende September arbeitete Louis ohne Wissen der Mutter auch nachts und machte riesige Fortschritte; er war schon bis zu den Gleichungen zweiten Grades gelangt, hatte sich
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