Die Grenze
mit verblüffender Anmut und Geschwindigkeit in den bemoosten Ritzen zwischen den Schindeln bewegte, konnte Chert nicht länger so tun, als wäre der Neuankömmling irgend etwas anderes als ein fingerlanges Männchen. Er schnappte nach Luft, und der kleine Kerl blieb stehen.
»Das ist Chert«, erklärte Flint dem Männchen. »Er ist mit mir gekommen. Ich wohne bei ihm.«
Der winzige Geselle nahm den Abstieg wieder auf, jetzt noch schneller, schwang sich schon fast von Griff zu Griff, bis er bei Flint ankam. Er stand neben dem Jungen und beäugte Chert mit — soweit Chert das in einem Gesicht von der Größe eines Knopfs entziffern konnte — einigem Mißtrauen.
»Ihr sagt, selbger ist gut, also will ich Euch traun.« Die Stimme des Männleins war so hoch wie das Flöten eines Singvogels, aber Chert konnte jedes Wort verstehen.
»Ein Dachling ...«, hauchte er verblüfft. Es war ungemein seltsam, etwas aus alten Geschichten leibhaftig vor sich stehen zu sehen, lebend und atmend und nicht größer als eine Grille. Er hatte geglaubt, die Dachlinge wären, wenn nicht überhaupt nur die Erfindung von Generationen von Funderlingmüttern und -großmüttern, doch etwas, das so weit zurücklag, daß es fast auf dasselbe hinauslief. »Felsriß und Firstenbruch, Junge! Wo hast du ihn gefunden?«
»Gefunden?« Das kleine Wesen trat auf ihn zu, die Fäuste in die Hüften gestemmt. »Ha! Giebelgaup, der Bogenschütz, nichts als ein Spielzeug, gefunden und wieder fallen gelassen? In fairem Kampf besiegt, das hat mich selbger.«
Chert schüttelte verwirrt den Kopf, aber Giebelgaup schien es nicht weiter zu interessieren. Er drehte sich um, zog ein kleines silbernes Ding aus seinem Wams und setzte es an die Lippen. Wenn es einen Laut hervorbrachte, war er zu leise oder zu hoch für Cherts alte Ohren, aber gleich darauf kam eine ganze Schar winziger Gestalten über den Firstbalken geströmt, so schnell und so lautlos, daß es schien, als glitte ein kleiner Teppich über die Schindeln herab.
Die Versammlung oder Delegation oder was es auch immer war, bestand aus mindestens zwei oder drei Dutzend Dachlingen. Die vordersten ritten auf grauen Mäusen und waren mit langen Speeren bewaffnet. Ihre Plattenpanzer sahen aus, als wären sie aus Nußschalen gemacht, und als Helme trugen sie bemalte Vogelschädel; während sie ihre samtpelzigen Reittiere zügelten, beäugten sie Chert finster durch die Augenhöhlen über den langen Schnäbeln. Die restlichen folgten zu Fuß, waren aber auf ihre Weise nicht minder beeindruckend. Obwohl ihre Kleidung fast durchweg dunkel war und aus zu dickem und steifem Stoff bestand, um wie die Kleider der Funderlinge und Großwüchsigen zu fallen, hatten sie doch offensichtlich viel Zeit auf diese Gewandung verwandt — die Kleidungsstücke waren raffiniert geschnitten, und Männlein wie Weiblein bewegten sich mit der Feierlichkeit von Leuten, die ihren besten Staat zur Schau trugen.
Und das alles,
dachte Chert, noch immer wie vor den Kopf geschlagen,
um Flint zu treffen?
Während sich die Winzlinge in einem achtungsvollen Halbkreis hinter den Mäusereitern gruppierten, wurde klar, daß es mit den Überraschungen keineswegs vorbei war. Das Kerlchen, das sich Giebelgaup nannte, setzte wieder die silberne Pfeife an die Lippen und blies hinein. Gleich darauf tauchte eine noch bizarrere Erscheinung auf dem Dachfirst auf — ein fetter, kleiner Mann, kaum größer als Cherts Daumen, auf dem Rücken eines hüpfenden Spatzen. Als der Vogel täppisch die Dachschräge heruntergehopst kam, sah Chert, daß die Flügel des Tiers von den Gurten eines überdachten, kastenförmigen Sattels an den Leib gepreßt wurden. Das fette Männlein unter dem Sattelbaldachin zog heftig an den Zügeln, um den Vogel über die Schindeln zu dirigieren, was jedoch kaum Wirkung zeitigte, denn der Spatz folgte nur seinem eigenen Gutdünken.
Ich werde dran denken, wenn mir je jemand einen Spatzenritt offeriert,
dachte Chert, und was ihn beeindruckte, war weniger sein eigener Witz als vielmehr die Tatsache, daß ihm unter solchen Bedingungen überhaupt einer einfiel. Das Ganze war wie ein Traum.
Als der Spatz schließlich hinter den Mäusereitern zum Stehen kam, hing der Reiter halb aus dem Sattel, wedelte aber die beiden Mäusereiter, die ihm helfen wollten, dennoch weg. Er richtete sich auf und kletterte dann, verblüffend behende für seine Körpermasse, von seinem Reittier. Er wurde ein wenig durch seine Kleidung behindert — er
Weitere Kostenlose Bücher