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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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gewesen!«
    »Aber warum, nach all den Jahren, quält es Euch gerade jetzt so sehr, Tante?« fragte Briony. »Es ist schlimm und traurig, aber warum hat es Euch jetzt niedergeworfen?«
    »Ein solcher Schmerz vergeht nie wirklich, Kind. Doch es hat einen Grund, daß er gerade jetzt so schlimm ist. Barmherzige Zoria, ich habe ihn gesehen. Bei Kendricks Beisetzung. Ich habe meinen Sohn gesehen.«
    Im ersten Moment konnte Barrick nur hilfesuchend zu seiner Schwester hinübergucken. Ihm war ganz flau und seltsam. Nichts ergab mehr einen Sinn, und das Geständnis der Herzogin brachte das, was einst normal und verläßlich gewesen war, nur noch weiter zum Bröckeln. »Ein Schatten, ein Gespenst«, sagte er und fragte sich wieder, wie wohl Merolannas Träume aussahen. »Davon ist die Burg derzeit voll.«
    »Meint Ihr, Ihr habt Euer Kind als Erwachsenen gesehen? Das könnte doch sein, Tante. Niemand hat Euch je gesagt, er sei tot ...«
    »Nein, Briony, ich habe ihn als Kind gesehen. Aber nicht als das Kind, das er war, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er war älter geworden. Aber nur ein wenig. Nur ... ein paar Jahre ...« Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen.
    Barrick stöhnte und sah wieder zu seiner Schwester hinüber, damit sie ihm half, dem allem einen Sinn abzugewinnen, aber sie war zu der alten Frau hingekrabbelt, um sie in die Arme zu nehmen.
    »Aber,Tante ...«, setzte Briony an.
    »Nein.« Merolanna kämpfte darum, nicht von den Tränen überwältigt zu werden. »Nein, ich mag ja alt sein — und sogar verrückt —, aber eine Närrin bin ich nicht. Was auch immer ich da gesehen habe, einen Geist, ein Hirngespinst oder einen schrecklichen Wachtraum, es war mein eigenes Kind. Es war mein Sohn — mein Kind. Das Kind, das ich weggegeben habe!«
    »Oh, Tante.« Zu Barricks Unbehagen weinte Briony jetzt ebenfalls. Ihm fiel nichts weiter ein, als aufzustehen, Merolanna noch einen Becher Wein einzuschenken und dann damit neben dem Bett stehenzubleiben und zu warten, bis sich der Tränensturm legte.

17

Schwarze Blumen
    Der Schädel:
Pfeifend, dieser hier pfeift,
Ein Lied vom Wind und vom Wachsenden,
Einen Gesang von warmen Steinen in Asche.

Das Knochenorakel
    Der Hochedle Riecher, massiger als seine Dachlingskameraden, aber doch nicht größer als Cherts Zeigefinger, hatte gesprochen; Diese Fremden rochen nach Schlechtigkeit. Es würde kein Treffen mit der Königin geben. Chert wußte nicht, ob er erleichtert oder enttäuscht sein sollte — er wußte überhaupt nicht mehr viel. Als er heute morgen aufgestanden war, wäre er nie auf die Idee gekommen, daß er sich auf dem Burgdach wiederfinden könnte, mit einer ganzen Schar von Leutchen, die nicht größer waren als Feldmäuse.
    Die meisten Dachlinge waren nach dem Spruch des Riechers ängstlich vor den beiden Riesenbesuchern zurückgewichen. Flint sah einfach nur zu, behielt seine Gedanken und Gefühle wie immer für sich. Nur das Männlein namens Giebelgaup schien aktiv nachzudenken, die Stirn in winzige Fältchen gelegt.
    »Einen Augenblick, Ihr Herrn, ich ersuch Euch«, sagte Giebelgaup plötzlich, wieselte dann verblüffend schnell zum Hochedlen Riecher hinauf und sagte etwas in der Dachlingssprache, einem dünnen, schnellen Piepsen. Der Riecher antwortete. Dann sprach wieder Giebelgaup. Die versammelten Höflinge hörten gebannt zu und gaben kleine Laute des Erstaunens von sich, die wie das Tschilpen von Spatzenjungen klangen.
    Giebelgaup und der Riecher zwitscherten hin und her, bis Chert sich wieder fragte, ob er den Verstand verloren hatte, ob das alles vielleicht nur in seinem Kopf passierte. Er berührte die Dachziegel, befühlte den gebrannten Ton mit den Fingern, stocherte in dem feuchten Moos der Ritzen. Alles ziemlich real. Er fragte sich, was Opalia wohl mit diesen Wesen anfangen würde. Würde sie sie alle in einen Korb setzen, behutsam nach Hause tragen und mit Brotkrümeln füttern? Oder würde sie sie mit dem Besen verscheuchen?
    Ach, mein gutes altes Weib — in welchen Irrsinn sind wir bloß durch dieses Findelkind geraten?
    Schließlich drehte sich Giebelgaup um und kam wieder zu ihnen herabgetrabt. »Ich bitt abermals um Verzeihung, Ihr Herrn. Der Hochedle Riecher sagt, Ihr könnt unsere Königin treffen, so Ihr uns gestattet, Bogenschützen auf Euer beider Schultern zu postieren. Es war mein Einfall, und ich bin zutiefst betrübt ob der Unannehmlichkeit.« Er wirkte in der Tat beschämt, wie er so beim Reden seine kleine Mütze in

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