Die Grenze
zu weinen und höre nie mehr auf.«
Es war endlich Göttertag, und morgen war Letzttag. Chert war froh über die beiden Ruhetage. Ihm taten die Knochen weh, und im Rücken hatte er einen heißen, schießenden Schmerz, der nicht weggehen wollte. Und er war auch noch aus anderen Gründen froh, daß das Tagzehnt zu Ende ging. Die Beisetzung des Prinzen, mit der es begonnen hatte, die ganze schwere Arbeit und die lastende Trauer hatten ihm ziemlich zugesetzt, und das Verschwinden des Jungen an jenem Tag hatte ihn böse erschreckt.
Was ist er?
fragte sich Chert.
Nicht nur, weil er so seltsam ist, was ist er für uns? Ein Sohn? Wird jemand, werden seine richtigen Eltern kommen und ihn uns wegnehmen?
Er sah zu Opalia hinüber, die mehrere Töpfchen auf der anderen Seite der Tischplatte aufgereiht hatte.
Für mein altes Weib wäre es ein Dolchstoß ins Herz, wenn uns der Junge verlassen würde.
Und für mich auch,
merkte er plötzlich. Das Kind hatte Leben ins Haus gebracht, Leben, von dem Chert bisher gar nicht gemerkt hatte, daß er es vermißte.
»Ich glaube, die Blaubeermarmelade ist nicht so gut«, sagte Opalia, »obwohl sie mich drei Kupferstücke gekostet hat. Hier, probier mal.«
Chert sah sie finster an. »Was bin ich? Ein Hund? ›Das hier ist nicht mehr gut, probier mal‹?«
Opalia guckte finster zurück. Sie war darin besser als er. »Du alter Narr — ich habe nicht gesagt, sie ist nicht mehr gut, ich habe gesagt, ich glaube, sie ist nicht so gut. Ich frage dich nach deiner Meinung. Damit bist du doch sonst immer so schnell bei der Hand.«
»Na gut, gib her.« Er nahm das Töpfchen, tunkte ein Stück Brot hinein und hob es an die Nase. Es roch einfach nur nach Blaubeermarmelade, weckte aber einen seltsamen Gedanken: Wenn die alten Geschichten stimmten und es schon Funderlinge gegeben hatte, ehe es Großwüchsige gab, wer hatte dann die Früchte droben im Sonnenlicht gezogen? Und das Gemüse?
Hat uns der Herr des heißen, nassen Steins dazu geschaffen, Maulwürfe und Höhlengrillen zu essen und nie auch nur ein einziges Stückchen Obst, von Blaubeermarmelade ganz zu schweigen?
Aber wenn nicht, wo waren dann solche Dinge hergekommen? Hatten die Funderlinge einst Felder droben unter der Sonne gehabt? Eine seltsame Vorstellung, aber noch seltsamer war die von einem Leben ohne ...
»Die Marmelade, Alter. Was hältst du von der Marmelade?«
Chert schüttelte den Kopf. »Was?«
»Ich nehm's zurück — du bist nicht helle genug, um ein Narr zu sein. Du paßt nicht gut genug auf. Die Marmelade!«
»Oh, die schmeckt einfach nach Marmelade.« Er sah sich um. »Wo ist der Junge?
»Vor dem Haus, spielen. Aber du würdest es ja nicht mal merken, wenn er davongewandert und im Salzsee ertrunken wäre.«
»Sei nicht so unleidlich, Opalia. Ich bin müde. Es war ein unangenehmes Stück Arbeit, diese Gruft.«
Sie nahm das Marmeladentöpfchen. »Tut mir leid, alter Junge. Du arbeitest wirklich schwer.«
»Dann gib mir einen Kuß, und laß uns nicht streiten.«
Opalia war zu ihrer Freundin Zitrine gegangen, der Frau eines Vetters von Chert, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß Flint immer noch vor der Haustür seine komplizierten Miniaturfestungen aus feuchter Erde und Steinchen errichtete, schenkte sich Chert einen Krug Moosbräu ein und zog den mysteriösen Stein hervor, den Flint gefunden hatte. Die eine Woche hatte ihm nichts von seiner Fremdheit genommen: Der wolkige, ungewöhnlich gerundete Kristall glich immer noch keinem Stein, den Chert je gesehen oder von dem er je gehört hatte. Chaven war für mehrere Tage unterwegs, bereiste mit einem Kollegen die entlegeneren Ortschaften, um die Ausbreitung der Krankheit, die beinah Prinz Barrick getötet hatte, zu studieren. Jetzt bereute Chert, daß er nicht vorher noch mit dem Arzt gesprochen hatte. Der Stein beunruhigte ihn, obwohl er gar nicht sagen konnte, warum — abgesehen davon, daß er aussah, als hätte er von jenseits der Schattengrenze kommen können. Aber Chert hatte ein halbes Dutzend Schattengrenzensteine im Haus — die, die niemand hatte kaufen wollen, die er aber zu interessant fand, um sie einfach wegzuwerfen — und an keinen davon großartige Gedanken verschwendet. Aber dieser hier ...
Ich könnte ihn der Zunft zeigen,
dachte er. Aber er war sich merkwürdig sicher, daß ihn die anderen auch nicht kennen würden — der alte Feldspat, der mehr mit Stein gearbeitet und mehr über Stein gewußt hatte als der Rest der Funderlingsstadt
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