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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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trug ein langes Gewand mit einem Pelzkragen und eine funkelnde Kette auf der Brust. Als er auf den Dachziegeln stand, nahm er die tiefen Verbeugungen der übrigen Dachlinge entgegen, als stünden sie ihm zu, und starrte dann mit zusammengekniffenen Augen Chert und Flint an, während er näher an sie herantrat — allerdings nicht so nahe, daß er sich nicht immer noch mit ein, zwei Schritten hinter die schützende Reihe der Mäusereiter hätte zurückziehen können.
    »Ist das der König?« fragte Chert, aber Flint antwortete nicht. Die Dachlinge selbst beobachteten den fetten, kleinen Mann mit gespannter Aufmerksamkeit, als er jetzt den gesamten Kopf vorstreckte und ... schnupperte.
    Er richtete sich stirnrunzelnd wieder auf, roch dann erneut, wobei er so vehement so viel Luft einsog, daß Chert ein leises Pfeifen hörte. Das Stirnrunzeln des fetten Wichts wurde zu einer Unmutsmiene, und er sagte etwas, so schnell und so hoch, daß Chert gar nichts verstand, aber die anderen Dachlinge wichen erschrocken zurück und sahen Chert und Flint so furchtsam an, als wären den beiden plötzlich Fangzähne und Katzenkrallen gewachsen.
    »Was hat er gesagt?« fragte Chert, gefesselt von dem dramatischen Schauspiel.
    Giebelgaup trat vor, bleich, aber entschlossen. Er verbeugte sich. »Es ist mir arg, aber der Hochedle Riecher spricht leider der Riesen Sprache nicht so wie wir Dachrinnenkundschafter.« Er schüttelte ernst den Kopf. »Und glaubt mir, es ist mir ärger noch, aber der Hochedle Riecher sagt, Ihr könnt die Königin heut nicht treffen, denn Eurer zween einer riecht in der Tat sehr stark nach Schlechtigkeit.«

    »Es war vor langer, langer Zeit«, erklärte Merolanna. »Damals, als ich gerade von Fael hierhergekommen war, um die Frau eures Großonkels Daman zu werden. Ihr kanntet ihn nicht mehr, er starb ja schon lange vor eurer Geburt.«
    »Im langen Gang hängt ein Bild von ihm«, sagte Briony. »Er sieht sehr ... ernst aus.«
    »Liebes, ich sagte doch, unterbrecht mich nicht. Es ist schon schwer genug. Aber es stimmt, so sah er aus. Er war ein ernster Mann, ein ehrenhafter Mann, aber kein ... kein herzlicher Mann. Jedenfalls nicht so herzlich, wie es euer Vater ist oder wie es Damans Bruder, der alte König, war, wenn er etwas getrunken hatte oder aus sonst einem Grund fröhlich war.« Sie seufzte. »Versteht mich nicht falsch, Kinder. Euer Großonkel war nicht hartherzig, und auf meine Art habe ich ihn schließlich liebgewonnen. Aber in jenem ersten Jahr, als ich aus meiner Familie gerissen und in ein Land gebracht worden war, dessen Sprache ich kaum konnte, um einen Mann zu heiraten, der doppelt so alt war wie ich, da war ich sehr traurig und verängstigt und einsam. Und dann zog Daman in den Krieg.«
    Barrick fiel es schwer, stillzusitzen. Er war heute voller Ideen, voller Energie. Er wollte etwas tun, die Zeit wettmachen, die er durch seine Krankheit verloren hatte, und nicht den ganzen Tag hier sitzen und sich die Geschichten seiner Großtante anhören. Als Merolanna vorhin vom Verrücktwerden gesprochen hatte, hatte er aufgehorcht, es hatte fast so geklungen, als wäre sie kurz davor, dieselben nächtlichen Heimsuchungen einzugestehen, die auch ihn plagten, aber statt dessen schien sie jetzt zu irgendwelchen Dingen abzuschweifen, die so lange her waren, als wären sie in einer ganz anderen Welt passiert. Er wollte vom Bett aufstehen, vielleicht sogar gehen, aber er sah aus dem Augenwinkel, wie Briony ihn streng anguckte, und beschloß, still zu sein. In letzter Zeit war sowieso schon alles so schwierig: Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, sich auch noch mit seiner sturen Schwester streiten zu müssen.
    »Es war nur eine kleine Sache, eigentlich gar kein richtiger Krieg«, erklärte Merolanna. »Einer der Seeräuberbarone aus Perikal — ein schrecklicher Mann, dessen Name mir nicht mehr einfällt — drangsalierte den Schiffsverkehr an der Westküste, und Ustin schickte seinen Bruder dem König von Settland zu Hilfe. Daman zog fort, und ich war noch einsamer als zuvor, Tag für Tag ganz allein an diesem fremden grauen Ort, zwischen diesem ganzen dunklen Stein, unter all diesen mürrischen alten Ahnenbildern.
    Das ist, wie ich schon zu Hierarch Sisel sagte, keine Entschuldigung, aber ... aber nach ein paar Monaten fand ich mich immer öfter in Gesellschaft eines jungen Höflings. Er war der einzige, der mich besuchte, der einzige, der mich behandelte, als wäre ich mehr als nur eine Fremde, die in ihrer

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