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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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suchen.«
    »Aber sie warten auf mich.« Flint klang ganz vernünftig und sehr entschlossen.
    »Wer?«
    »Das alte Volk.«
    »Nein, nein und endgültig nein. Ich weiß nicht, wie du auf die Idee ...« Chert kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Er hatte den Fehler gemacht, Flints Kragen loszulassen, und jetzt flitzte der Junge bereits über den Tempelhof. »Kommst du hierher!« rief Chert. Aber das gehörte zum Unnützesten, was er je gesagt hatte.
    »Ich habe noch nie ein Kind geschlagen ...«, knurrte Chert, aber dann mußte er den Mund zumachen, weil von dem Mauervorsprung, an dem er sich festhielt, Steinstaub, Mörtel und Stückchen von trockenem Moos auf ihn herabrieselten.
Du hattest auch nie ein Kind, das du hättest schlagen können,
sagte er sich verdrossen. Seine Rückenschmerzen waren schlimmer denn je, und seine Arme und Beine fühlten sich jetzt an, als hätte er den ganzen Vormittag eine schwere Spitzhacke geschwungen, was er seit seinen jungen Jahren nicht mehr getan hatte.
Und du wirst überhaupt nie irgendwen schlagen, wenn du jetzt abstürzt und dir alle Knochen brichst, also paß auf, was du tust.
Trotzdem war er wütend und ziemlich erschüttert. Er hatte nicht gewußt, daß ein Kind einem unschuldig ins Gesicht gucken und dann im nächsten Moment einfach nicht gehorchen konnte. Flint hatte, schon seit er bei ihnen war, seinen eigenen Kopf und seine geheimen Gedanken gehabt, aber so schwierig war er noch nie gewesen.
    Chert sah hinab und wünschte, er hätte es nicht getan. Es war Jahre her, daß er auf dem Gerüst gearbeitet hatte, und sowieso war es nicht so schlimm, auf den fernen Boden hinabzugucken, wenn sich die Felsdecke der Funderlingsstadt tröstlich über einem wölbte. Unter freiem Himmel die Außenwand eines Gebäudes hinaufzuklettern, selbst diese hier mit ihren vergleichsweise leichten Griffen, war etwas ganz anderes und ziemlich schwindelerregend.
    Schaudernd hob er den Blick und sah sich um, sicher, daß just in diesem Moment ein Wächter die Eindringlinge an der Palastwand bemerkt hatte und einen Pfeil anlegte, bereit, ihn zu durchbohren wie ein Eichhörnchen. Zu sehen war niemand, aber wie lange noch?
    »Ich habe noch nie ein Kind geschlagen, aber diesmal ...«
    Als er endlich oben war, konnte er sich gerade noch aufs Dach hinaufziehen und, nach Luft schnappend und an Armen und Beinen zitternd, liegenbleiben. Als es ihm schließlich gelang, sich auf alle viere hochzuhieven und umzuschauen, sah er Flint gleich unterm Dachfirst an einem der großen Kamine sitzen und ruhig, aber gespannt warten — allerdings, wie es schien, nicht auf seinen Ziehvater, denn er guckte noch nicht mal her. Chert wischte sich den Schweiß vom Gesicht und kletterte vorsichtig über die bemooste Schräge zu dem Jungen hinauf. Er fluchte bei jedem Atemzug.
Höhe.
Höhen mochte er gar nicht, Und Kinder mochte er wohl auch nicht wirklich. Aber was, bei den Alten der Erde, machte er dann hier oben auf dem Dach der Südmarksfeste, nur wegen dieses verrückten Jungen?
    Seine Beine zitterten so, daß er sich, als er den Kamin erreichte, an dem Mauerwerk festklammern mußte, während er die Muskeln dehnte und die Krämpfe auszuschütteln versuchte. Flint betrachtete ihn mit demselben nüchternen Blick, den er überall und in allen Situationen hatte.
    »Ich bin zornig, Junge«, brummte Chert. Er sah sich um, ob sie jemand von einem höher gelegenen Fenster aus beobachten konnte, aber der Junge hatte eine Stelle gewählt, wo höhere Teile des Palasts das Dach überragten, fensterlose Mauern, zwischen denen dieser Teil eine Art ziegelgedeckte Schlucht bildete, uneinsehbar von fast allen nähergelegenen Türmen. Ja, selbst die Spitze des mächtigen Wolfszahnturms war kaum zu sehen, weil ein überhängendes Dach den Blick versperrte. Dennoch hatte Chert den starken Impuls zu flüstern. »Hast du gehört? Ich sagte, ich bin zornig ...«
    Flint wandte sich ihm zu und legte sich den Zeigefinger auf die Lippen. »Psst.«
    Als Chert kurz davor war, endgültig den Verstand zu verlieren, lenkte ihn eine winzige Bewegung auf dem Dachfirst ab. Vor seinen erstaunten Augen tauchte dort eine kleine Gestalt auf. Im ersten Moment dachte er, das winzige, menschenförmige Etwas müsse jemand sein, der ganz oben auf einem entfernten Turm stand, einem Turm, den das Dach, auf dem er und der Junge saßen, verdeckte — wie sonst ließ sich diese Erscheinung erklären? Doch als die winzige Gestalt die Dachschräge herabkletterte, sich

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