Die Grenze
Mann und ließ Chert in der Eingangshalle warten. Hier stand ein Zorienaltar mit brennenden Kerzen, was Chert merkwürdig fand — wenn der Hofarzt in seinem Haus den Göttern der Großwüchsigen huldigen wollte, dann doch wohl eher dem Trigonat? Oder vielleicht Kupilas, dem Gott des Heilens? Aber so richtig hatte er die Großwüchsigen und ihren Sack voller Götter nie durchschaut.
Henrik kam wieder, noch immer mit beunruhigter Miene, und winkte Chert den Gang zu jenen Räumen entlang, wo Chaven seine Experimente durchführte. Vielleicht erklärte das ja das Verhalten des Dieners: Sein Herr machte etwas, das er für gefährlich hielt.
In dem düsteren Raum mit dem langen, hohen Tisch voller Bücherstapel und seltsamer Gegenstände — Meßinstrumente, Linsen, Gefäße zum Zerstoßen und Vermischen von Substanzen, Flaschen und Gläser und dazu noch Kerzen auf nahezu jedem freien Fleckchen — fand Chert zu seinem Erstaunen den Hofarzt nicht allein.
Diesen jungen Burschen habe ich doch schon mal gesehen
dachte er verdutzt.
Der rothaarige Jüngling sah auf, als sich die Tür hinter Chert schloß. »Ein Funderling!«
Chaven drehte sich um und lächelte Chert an. »Ihr sagt das, als wäre es etwas Erstaunliches, Hoheit. Aber ich denke, jetzt, da Ihr es bemerkt habt, weiß jeder in diesem Raum, daß mein Freund Chert ein Funderling ist.«
Der Bursche runzelte die Stirn. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz — Schuhe, Hosen, Wams, ja selbst die weiche Mütze. Chert wußte jetzt, wer der Junge war, und versuchte sich seine Verblüffung nicht anmerken zu lassen, während der Junge sich beschwerte: »Ihr macht Euch über mich lustig, Chaven.«
»Ein klein wenig, Hoheit.« Er wandte sich an Chert. »Das ist der eine unserer beiden Regenten, Prinz Barrick. Prinz Barrick, das ist mein Freund Chert aus dem Hause Blauquarz, ein äußerst braver Mann. Er hat Eurer Familie vor kurzem in traurigen Zeiten den Dienst erwiesen, das Grab Eures Bruders in aller Schnelle fertigzustellen.«
Barrick zuckte ein wenig zusammen, lächelte den Neuankömmling aber immerhin an. »Das war freundlich von Euch.«
Chert wußte nicht recht, was tun. Er verbeugte sich, so gut er es verstand. »Es war das mindeste, was wir tun konnten, Eure Hoheit. Euer Bruder war bei meinem Volk sehr beliebt.«
Bei den meisten aus meinem Volk,
korrigierte er sich im stillen.
Na ja, bei vielen.
»Und was führt Euch heute zu mir, guter Chert?« fragte Chaven. Er wirkte fast schon überschwenglich — seltsam für jemanden, der gerade unterwegs gewesen war, um nach den Kranken und Sterbenden zu sehen.
Wie soll ich vor dem Prinzregenten über das sprechen, was ich gesehen habe?
fragte sich Chert. Da war der starke Impuls, vor Mächtigeren alles Außergewöhnliche zu verbergen. Aber da war auch der entgegengesetzte und fast ebenso starke Drang, alles Seltsame an jemand anderen weiterzugeben.
Ich bin einer, der gern genau weiß, was er tut,
befand Chert.
Und ich werde ganz bestimmt nicht diesen Mischmasch aus Ängsten, Vermutungen und fleischgewordenen Ammenmärchen vor einem Mitglied der königlichen Familie herausblubbern.
»Ich wollte nur hören, wie Eure Reise war«, sagte er laut, merkte dann aber, daß er auf keinen Fall noch einmal tagelang warten wollte, bis er dem Arzt von seinen Sorgen erzählen konnte. »Und vielleicht noch ein bißchen über das reden, worüber wir letztes Mal gesprochen haben ...«
Prinz Barrick erhob sich von dem Schemel, auf dem er kippelnd gesessen hatte — wie irgendein junger Bursche, dachte Chert jetzt. »Dann will ich Euch nicht weiter aufhalten«, erklärte er dem Arzt. Sein Ton war leicht, aber Chert meinte Enttäuschung aus seinen Worten herauszuhören und noch etwas anderes — Ärger? Angst? »Aber ich möchte Euch wieder sprechen. Morgen vielleicht?«
»Gewiß, Hoheit, ich stehe immer zu Euren Diensten. Einstweilen könnte ein Glas starken Süßweins vor dem Zubettgehen vielleicht etwas helfen. Und bitte vergeßt nicht, was ich gesagt habe. Alles sieht anders aus, wenn Nacht über der Welt liegt. Erlaubt, daß ich Euch zur Tür geleite.«
Barrick verdrehte die Augen. »Meine Wachen sind in der Küche, um Eure Haushälterin und deren Tochter von der Arbeit abzuhalten. Seit Kendricks Ermordung kann ich nirgends mehr hingehen, ohne zwischen gepanzerten und bewaffneten Männern eingekeilt zu sein. Ich konnte ihnen mit Mühe klar machen, daß ich sie nicht mit hier drinnen haben wollte.« Er winkte mit der gesunden Hand.
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