Die Grenze
»Ich finde schon hinaus. Vielleicht kann ich mich ja an der Küche vorbeischleichen und ein Stündchen für mich sein, ehe sie merken, daß ich weg bin.«
»Tut das nicht, Hoheit!« Chavens Stimme war munter, ja fröhlich, aber es lag ein scharfer Unterton darin. »Die Leute haben Angst. Wenn Ihr verschwindet, werden es diese Wachen büßen müssen.«
Barrick runzelte die Stirn, lachte dann kurz auf. »Da habt Ihr wohl recht. Ich werde hingehen und sie warnen, ehe ich losrenne.« Im Hinausgehen nickte er Chert zerstreut zu.
»Dachlinge also?« Chaven nahm seine Augengläser ab, putzte sie mit dem Ärmelsaum seines Gewands — eines Gewands, das erstaunlich fleckig war, wenn man bedachte, daß er darin ein Mitglied der Königsfamilie empfangen hatte —, setzte sie dann wieder auf und sah Chert pfiffig an. »Eine ungewöhnliche Nachricht fürwahr, aber ich muß gestehen, es gäbe wohl Leute, die sie mit größerem Erstaunen vernehmen würden als ich.«
»Ihr wußtet es schon?«
»Nein — jedenfalls habe ich sie noch nie gesehen, geschweige denn eine so außergewöhnliche Audienz bei ihrer Königin gehabt. Aber ich bin auf ... Zeichen gestoßen, die mir die Vermutung nahelegten, daß die Dachlinge mehr als nur Fabelwesen sind.«
»Aber was hat das zu bedeuten? Dieses ganze Gerede von Schatten und von einem nahenden Sturm? Hat es damit zu tun, daß sich die Schattengrenze verschiebt? Bei uns auf dem Steinbruchsplatz geht das Gerücht, in den Hügeln im Westen sei etwas über die Schattengrenze gekommen und habe eine ganze Handelskarawane entführt.«
»Ausnahmsweise sind die Gerüchte zutreffend«, sagte Chaven und erzählte seinem Gast rasch die Geschichte des Kaufmanns Raemon Beck. »Der Prinz und die Prinzessin haben bereits einen Trupp Soldaten an den Ort des Überfalls entsandt.«
Chert schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht glauben — ich habe immer mehr das Gefühl, daß die alten Ammenmärchen zum Leben erwachen. Welch ein Fluch, in solchen Zeiten zu leben.«
»Vielleicht. Aber aus großer Angst und Gefahr können auch Heldenhaftigkeit und Schönheit erwachsen.«
»Ich bin nicht zum Helden geschaffen«, sagte Chert. »Ich will nichts weiter als eine weiche Gesteinsschicht und ein warmes Essen nach Feierabend.«
Chaven lächelte. »Ich habe es auch nicht so mit dem Heldentum«, sagte er, »aber ein Teil von mir — meine neugierige Seite vermutlich — kann es nicht leiden, wenn das Leben zu bequem verläuft. Bequemlichkeit ist die Feindin des Lernens oder zumindest die Feindin wahren Verstehens.«
Chert unterdrückte ein Schaudern. »Aber die Art Lektion, von der die Dachlinge gesprochen haben — die Alte Nacht! Das klingt doch schrecklich. Und dieser Herr des höchsten Punkts, der sie gewarnt hat, sicher so eine Dachlingsgottheit. Jedenfalls ist das die Sorte Lektion, vor der ich mich lieber drücken würde.«
»Der Herr des höchsten Punkts?« Chavens Ton wirkte jetzt etwas kühler. »Das haben sie gesagt?«
»J-ja — habe ich das nicht erzählt? Muß ich vergessen haben. Sie sagten, das alles sei ihnen vom Herrn des höchsten Punkts offenbart worden.«
Chaven sah ihn eine ganze Weile wie aus weiter Ferne an, und Chert fürchtete schon, ihre alte, aber etwas förmliche Freundschaft durch irgend etwas verletzt zu haben. »Tja, ich nehme an, Ihr habt recht«, sagte der Arzt schließlich. »Es ist eine Gottheit.« Er ging unvermittelt ein paar Schritte in Richtung Tür und rieb sich die Hände. »Gut, daß Ihr mit all dem zu mir gekommen seid. Verzeiht, aber Ihr habt mir so viel Stoff zum Nachdenken gegeben, und es liegt mehr in meinen Händen als nur die körperliche Gesundheit der königlichen Familie.«
»Es war merkwürdig, Prinz Barrick zu sehen. Er ist noch so jung!«
»Er und seine Schwester reifen rasch heran. Dies sind rauhe Zeiten. Und jetzt verzeiht, guter Chert, aber ich habe viel zu tun.«
Chert hatte das deutliche Gefühl, hastig hinauskomplimentiert zu werden, und er war schon fast an der Tür, als es ihm einfiel. »Oh, ich habe ja noch etwas für Euch!« Er kramte in seiner Wamstasche und zog den ungewöhnlichen Stein heraus. »Flint, der Junge, den Ihr schon kennengelernt habt — er hat das hier gefunden, nicht weit von der königlichen Familiengruft. Ich lebe und arbeite seit meiner Jugend mit Stein, aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Ich dachte, Ihr könntet mir vielleicht sagen, was es ist.« Dann kam ihm noch ein Gedanke: »Ich bin gar nicht drauf
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