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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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Mauern und Stollen und all dieses Zeug, das ihn so begeistert — du liebe Güte, was dieser Junge an Staub hier hereinschleppt!« Tränen schossen ihr in die Augen. »Und dann — ich weiß nicht, ich bin vor Stunden rausgegangen, um ihn zum Essen zu rufen, und da war er weg. Ich bin überall herumgelaufen, bis runter zur Zunfthalle — ich war sogar am Salzsee und habe den kleinen Block gefragt, ob er dort war. Aber anscheinend hat ihn niemand gesehen!«
    Er mühte sich trotz seiner schmerzenden Beine wieder hoch und nahm sie in die Arme. »Ist ja gut, mein alter Schatz, ist ja gut. Er ist sicher nur losgezogen, irgendwelchen Unfug machen — schließlich ist er ein Junge und, bei den Alten der Erde, ein ziemlich selbständiges Bürschchen dazu. Er kommt bestimmt wieder, ehe wir mit dem Abendessen fertig sind.«
    »Abendessen!« schrie sie schon fast. »Du alter Narr, glaubst du, ich hätte Zeit gehabt, Abendessen zu machen? Ich bin den ganzen Nachmittag in der Stadt herumgerannt, völlig außer mir, und habe den Jungen gesucht. Es gibt kein Abendessen!« Sie schluchzte laut auf, drehte sich um, stolperte zu ihrem Ehebett und wickelte sich in eine Decke, so daß nur noch ein bebendes Häufchen zu sehen war.
    Chert war schon auch beunruhigt, fand aber doch, daß Opalia ein bißchen übertrieb. Flint wäre nicht der erste Junge aus der Funderlingsstadt — und auch nicht der letzte —, der irgendwelchen kindlichen Abenteuern nachging und dabei die Zeit vergaß. Es war ja noch gar nicht lange her, daß er bei der Beisetzung des Prinzregenten verschwunden war. Wenn er bis zur Schlafengehenszeit nicht zurück war, konnten sie immer noch anfangen, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Einstweilen aber war es so, daß Chert einen langen Arbeitstag hinter sich hatte und sein Magen so leer und zusammengeschnurrt war wie ein vertrockneter Ledersack.
    Halbherzig inspizierte er die Speisekammer. »Schau, schau, da ist ja Prachtwurz«, sagte er so laut, daß Opalia es hören mußte. »Nur kurz in den Kochtopf, und das ergibt ein köstliches Mahl.« Sie reagierte nicht. Er kramte weitere Wurzeln und Knollen durch. Einige wirkten ein wenig bärtig. »Vielleicht esse ich ja einfach nur ein bißchen Brot und Käse.«
    »Es ist kein Brot da.« Der Klumpen auf dem Bett bewegte sich. Er klang wie ein unglücklicher Klumpen. »Ich wollte noch mal losgehen und einen frischen Laib kaufen, aber ... aber ...«
    »Ah, ja, natürlich«, sagte Chert rasch. »Mach dir nichts draus. Trotzdem, schade um den Prachtwurz. Nur kurz in den Kochtopf ...«
    »Wenn du ihn gekocht haben willst, koch ihn dir selbst. Du weißt ja, wie.«
     
    Chert mümmelte traurig ein rohes Stück Prachtwurz — ihm war gar nicht klar gewesen, wieviel bitterer das Zeug schmeckte, wenn es nicht in Rübenzucker gekocht worden war — und begann sich einzugestehen, daß der Junge nicht zum Abendessen erschien. Nicht, daß rohe Wurzeln und ein hartes Stück Käse ein besonderer Anreiz zum Nachhausekommen gewesen wären, aber Chert konnte nicht leugnen, daß seine innere Unruhe wuchs. Sein Feierabendbier hatte zwar die faserige Wurzel hinunterspülen geholfen und auch dem Schmerz in seinen Beinen und seinem Rücken die Spitze genommen, aber sonderlich beruhigend hatte es nicht gewirkt. Er war mehrmals draußen auf der Keilstraße gewesen. Die schwächeren Steinlampen brannten bereits, und die Straßen waren so gut wie leer, weil alle Familien gerade ihr Abendessen beendeten und sich für die Nacht fertig machten. Die Kinder waren jetzt bestimmt schon alle im Bett. Die anderen Kinder.
    Er beschloß, eine Lampe zu nehmen und sich auf die Suche zu machen.
    Konnte der Junge in einen der noch unfertigen Stollen gegangen sein? War er vielleicht in einem der Seitengänge, die noch nicht richtig abgestützt waren, von einem Felsrutsch überrascht worden? Chert ging weitere Möglichkeiten durch, harmlosere und noch gefährlichere. War er vielleicht mit einem anderen Kind nach Hause gegangen? Flint war in mancherlei Hinsicht so weltfremd, daß er durchaus vergessen haben konnte, Bescheid zu sagen, und erst recht natürlich, um Erlaubnis zu fragen. Aber er hatte ja noch gar keine richtigen Freundschaften mit Funderlingskindern geschlossen, nicht mal mit den Gleichaltrigen aus der Nachbarschaft. Wo konnte er sonst sein? Drunten auf der unterirdischen Baustelle, wo Chert arbeitete, nahe der Eddon-Gruft? Dort gab es allerdings gefährliche Stellen, aber Flint hatte doch klar gezeigt, daß er

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