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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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in den Augen des jungen Mannes, ehe Vorsicht oder Müdigkeit oder auch einfach nur lebenslange Gewohnheit ihnen ihre übliche Stumpfheit zurückgab, »Das ist aber ziemlich viel Gegrübel, nur wegen eines Sterns.«
    »Ja, das ist es. Und eines Tages werden wir dank dieses Gegrübels vielleicht ganz genau verstehen, wie die Götter unsere Welt erschaffen haben. Und wenn wir das wissen, sind wir dann nicht selbst schon fast Götter?«
    Toby machte das Zeichen gegen das Böse. »Wie könnt Ihr so was sagen! Manchmal macht Ihr mir wirklich angst, Herr.«
    Chaven schüttelte den Kopf. »Hilf mir einfach nur, das Fernrohr wieder auf Kossope zu fixieren, dann kannst du ins Bett gehen.«
     
    Es war wohl ganz gut, daß er jetzt allein war, dachte Chaven, während er seine letzten Beobachtungsnotizen niederschrieb. Selbst Toby hätte möglicherweise bemerkt, wie seine Hände zitterten, jetzt, da die ersehnte Stunde nahte. Es war so sonderbar stark, dieses Gefühl — er hatte immer schon nach Wissen gestrebt, aber das hier war eher eine Art Hunger und, wie es sich anfühlte, kein gesunder. Mit jedem Mal fiel es ihm schwerer, den Großen Spiegel wieder zu verhüllen. War es einfach nur die Gier nach dem Wissen, das er erlangte, oder war es der besondere Bann des Geistes, der ihm dieses Wissen gab? Oder war es etwas ganz anderes? Was auch immer diesen Heißhunger erzeugte, er vermochte sich kaum noch zu zwingen, den Kasten voller kostbarer Linsen ordentlich zuzudecken, und nur die beißend kalte Nachtluft brachte ihn dazu, eine weitere Verzögerung in Kauf zu nehmen und diese aufreizend hellen Sterne auszusperren, indem er das Observatoriumsdach zukurbelte.
    Heute war sein Verlangen besonders groß, weil es so lange — Wochen! — her war, daß ihm der Spiegel irgend etwas anderes beschert hatte als Dunkel und Schweigen. Wie frustrierend war es doch gewesen, sich den ganzen Abend auf Kossope konzentrieren zu sollen, wenn ihn doch in Wahrheit nur jene drei roten Sterne interessierten, die die Hörner des Zmeos oder auch die Alte Schlange genannt wurden: Wenn sie über der Schulter von Perins mächtigem Planeten auftauchten, so wie sie es heute nacht tun würden, dann konnte er den Spiegel wieder befragen.
    Als der Observatoriumsraum und das Fernrohr versorgt und gesichert waren, ging er auf die Suche nach Kloe. Wenn ihm die Götter hold waren, würden ihre Anstrengung und seine Opfergabe heute nacht nicht wieder unbeachtet bleiben.
    Chavens Hunger war jetzt so übermächtig, daß er gar nicht merkte, wie grob er mit Kloe umging, bis sie ihn, als er sie vor die Tür setzte, schnell, aber nachdrücklich in die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger biß. Er ließ sie fluchend fallen und saugte an der Wunde, während sie sich den Gang entlang trollte. Nach einem kurzen Moment der Wut schämte er sich zwar, daß er seine getreue Kloe so achtlos behandelt hatte, aber auch die Scham fiel der wühlenden Gier zum Opfer.
    In dem dunklen Raum, der jetzt noch dunkler zu werden schien, setzte er sich vor den Spiegel und begann zu singen. Es war ein alter Gesang in einer Sprache, die schon so lange tot war, daß kein Lebender mehr sicher sein konnte, sie richtig zu artikulieren, aber Chaven sang die Worte so, wie es ihm sein einstiger Lehrmeister Kaspar Dyelos gezeigt hatte. Dyelos, manchmal auch der Zauberer von Krace genannt, hatte nie einen Großen Spiegel besessen, wohl aber Scherben von mehr als nur einem, und mit diesen Scherben hatte er die wunderbarsten Dinge vollbracht. Doch in der Spiegelzauberei als Disziplin ging es ebenso um das Bewahren und Tradieren von Erinnerung wie um die praktische Manipulation des Kosmos — Chaven fragte sich oft, wie viele großartige und erstaunliche Dinge wohl in der Zeit des Großen Tods verlorengegangen waren — ,  weshalb Dyelos alles, was er gelernt hatte, an seinen Lehrling Chaven weitergegeben hatte. Deshalb hatte Chaven, als er eines Tages diesen Spiegel fand, schon gewußt, wie er damit umgehen mußte, wenn er auch nicht alle Schritte dieses Vorgehens genau verstanden hatte.
    Chaven rieb sich den Kopf, von einem aufdringlichen Gedanken geplagt. Seine Stirn schmerzte bereits, weil er die ganze Zeit in das Schattendunkel im Spiegel starrte und sich fragte, ob wohl noch etwas anderes die Schattenmaus dort auf dem Schattenfußboden beäugte und ob dieses Etwas wohl irgendwann kommen würde. War er auch heute nacht wieder zum Scheitern verurteilt? Er war zerstreut, das war das Problem ... aber es

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