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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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verblüffte ihn einfach, daß er sich plötzlich nicht mehr erinnern konnte, wo er den Spiegel herhatte, der jetzt da vor ihm an der Wand seines geheimen Lagerraums lehnte. Jedenfalls schien sie sich urplötzlich aufgetan zu haben, diese Gedächtnislücke. Er konnte sich mühelos erinnern, wo er all die anderen Spiegel erworben hatte, die verhüllt auf den Borden standen, und auch, wo sie ursprünglich herstammten, aber aus irgendeinem Grund wußte er im Moment einfach nicht mehr, wie er an das Juwel seiner Sammlung, diesen Großen Spiegel, gekommen war.
    Es fühlte sich an wie eine juckende Stelle, an der er sich nicht kratzen konnte, und es wurde immer schlimmer. Hinter dieser Verwirrung trat selbst der Hunger ein wenig zurück.
Wo kommt er her, dieser mächtige Spiegel ? Ich habe ihn jetzt ... wie lange?
    In dem Moment blitzte in der Mitte des Spiegelglases etwas auf, eine Explosion von weißem Licht, als ob jemand ein Loch in den Nachthimmel gerissen hätte, um den strahlenden Glanz der Götter hervorbrechen zu lassen. Geblendet hob Chaven die Hände; das Licht verblaßte ein wenig, als die Eule landete, die hellen Schwingen anlegte und ihn mit orangefarbenen Augen ansah, Kloes Opfermaus in den mächtigen Klauen.
    Und da flogen alle anderen Gedanken davon, als umfingen die Schwingen auch ihn oder vielleicht auch, als wäre er das winzige Ding dort in dieser schneeweißen Klaue, im Griff einer Macht, die so viel stärker war als er, daß es eine Ehre schien, ihr das eigene Leben opfern zu dürfen.
     
    Er tauchte auf, aus dem tiefen Nichts endlich empor ins große Licht. Unbeschreibliche Musik — eine Art stetes Dröhnen, das dennoch aus komplizierten Gesangsstimmen und Melodien bestand — erfüllte weiterhin seine Ohren, jetzt aber schon leiser. Und seine Nase schien noch immer jenen unglaublichen Duft zu atmen, so stark und so betörend-süß wie Rosenessenz (obgleich solche Rosen an keinem Strauch wuchsen, der in gewöhnlicher Erde wurzelte, in tod- und fäulnisgetränktem Boden), aber es war nicht mehr das einzige, woran er denken konnte.
    Vielleicht hatte er diesen Gipfel der Glückseligkeit ja nur einen Moment lang erfahren. Vielleicht hatte er aber auch Jahrhunderte darin geschwelgt, als die Stimme-die-keine-Stimme-war schließlich zu ihm sprach, einen einzigen Gedanken nur, der da
»Ich bin hier«
lauten mochte oder auch einfach
»Ich bin«.
Männlich, weiblich, es war weder noch, es war beides — die Unterscheidung war bedeutungslos. Er brachte seine Dankbarkeit dafür zum Ausdruck, daß seine Opfergabe endlich angenommen worden war. Was zurückkam war eine Art
Wissen,
die mächtige Gelassenheit von etwas, das nichts anderes erwartete, als verehrt und gefürchtet zu werden.
    Doch selbst in der unendlichen Freude, wieder dieses mächtigen Lichtes teilhaftig zu werden, zerrte und zupfte etwas an seinem Denken, ein kleines, aber beunruhigendes Etwas, so wie die Schatten in seiner Spiegelkammer manchmal in seinem Augenwinkel seltsame Gestalt anzunehmen schienen, nie aber mitten in seinem Gesichtsfeld.
    Fragen,
fiel ihm ein, und einen Augenblick lang war er fast wieder er selbst.
Ich habe Fragen, die ich stellen möchte. Die Dachlinge,
erklärte er,
diese kleinen, alten Wesen, die im Verborgenen leben. Sie sprechen von jemandem, den sie den Herrn des Höchsten Punkts nennen und der zu ihnen kommt und ihnen Weisheiten offenbart. Bist du das?
    Was zurückkam war fast schon so etwas wie Belustigung. Aber es lag auch etwas Wegwischendes, Verneinendes darin.
    Dann sprechen sie also nicht von dir?
insistierte er.
Nicht du offenbarst ihnen schreckliche Warnungen?
    Das leuchtende Etwas — es sah jetzt überhaupt nicht mehr wie eine Eule aus, und obwohl er in diesem Moment seine Form klar erkennen konnte, wußte er, er würde sie später nicht in Worte fassen, ja sich nicht einmal richtig daran erinnern können — ließ sich mit der Antwort lange Zeit. Er empfand die Abwesenheit, die in diesem Schweigen lag, fast wie eine Art Tod und war deshalb, als es wieder sprach, so froh, daß ihm ein Teil dessen, was es sagte, entging.
    Dinge waren erwacht, die sonst schliefen, das war alles, was er aus den wortlosen, bruchstückhaften Gedanken herauslesen konnte. Das leuchtende Wesen erklärte ihm, sein Wirken sei subtiler Art und nicht dazu gedacht, daß er es verstand.
    Er spürte, daß er getadelt wurde, da war plötzlich mehr als nur eine Spur von Disharmonie in der alles erfüllenden Musik. Er war niedergeschmettert

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