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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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niederlegen. Macht Euch um die Königin keine Sorgen. Sie ist bei guter Gesundheit, und eine Hebamme ist Tag und Nacht bei ihr.« Er holte tief Luft. »Oh, bitte, nehmt die Kerze ein Stück zurück. Das sieht ja aus, als wolltet Ihr mich anzünden.«
    »Verzeiht, Herr.«
    »Und jetzt geht und weckt Henrik — im Winter ist er so langsam wie dicker Sirup, und ich brauche das Pferd.«
    »Werdet Ihr zum Waisentag wieder hier sein? Der Metzger hat mir ein feines Schwein versprochen.«
    Im ersten Moment hätte er fast wieder losgebrüllt, aber das war schließlich ihre Welt. Das war es, was ihr wichtig war — und in normalen Zeiten wäre es auch Chaven wichtig gewesen, denn er liebte Schweinebraten von Herzen. Was machte es schon für einen Unterschied, daß das jetzt keine normalen Zeiten waren? Vielleicht würde es ja das letzte Waisentagsmahl sein — ein Jammer, es zu verderben. »Ich werde vor dem Waisentag und sogar vor der Sangesnacht zurück sein — da bin ich mir so sicher, wie man es irgend sein kann, wenn man weiß, daß die Götter manchmal ihre eigenen Pläne haben. Macht Euch keine Sorgen wegen Eures Schweins, Frau Jennikin. Es wird sicher köstlich, und ich werde es sehr genießen.«
    Sie guckte jetzt schon etwas weniger ängstlich — als ob trotz der nächtlichen Stunde das Leben nicht mehr ganz so heillos durcheinander wäre. Er war froh, daß wenigstens sie so empfand.

    Der Diener des Arztes tat sein Bestes, Chert abzuwimmeln. Der alte Mann wirkte zerstreut, irgendwie schuldbewußt, als ob er bei irgendeinem kleinen, aber bedeutsamen Vergehen gestört worden wäre und jetzt schnellstens weitermachen wollte.
    Ein Nickerchen,
tippte Chert, obwohl es dafür noch ziemlich früh am Morgen schien.
Spät ins Bett gekommen demnach.
So leicht würde er sich nicht wegschicken lassen. »Es kümmert mich nicht, ob er niemanden empfängt. Ich habe etwas Wichtiges mit ihm zu bereden. Würdet Ihr ihm sagen, daß Chert aus der Funderlingsstadt hier ist.« Wenn der Arzt nur beschäftigt war und sich deshalb verleugnen ließ, dachte Chert, konnte er ja vielleicht umkehren und auf dem unterirdischen Weg wieder herkommen — ein Klopfen an jener Tür würde Chaven ja wohl nicht zu ignorieren wagen —, aber das würde ihn viel Zeit kosten, und die Vorstellung, einen so großen Teil des Tages zu verlieren, ging ihm gegen den Strich. Mit jeder Stunde der letzten Nacht, die er auf die fruchtlose Suche nach dem Jungen verwandt hatte, war er unruhiger geworden, so als ob Flint auf irgendeinem Gefährt oder Schiff säße, das sich immer weiter entfernte.
    Trotz seiner Proteste wollte ihm der Diener gerade die Tür vor der Nase zumachen, als plötzlich eine alte Frau den Kopf unterm Arm des großgewachsenen Mannes durchstreckte und den Funderling beäugte. Er hatte sie schon öfter gesehen, genau wie den alten Diener, aber meist nur von fern, wenn Chaven ihn durchs Observatoriumsgebäude geführt hatte. An die Namen der beiden konnte er sich nicht mehr erinnern.
    »Was wollt Ihr?« fragte sie mit leicht zusammengekniffenen Augen.
    »Ich möchte Euren Herrn sprechen. Ich weiß, es kommt ungelegen, und vielleicht hat er ja sogar gesagt, er will auf keinen Fall gestört werden. Aber er kennt mich, und ich ... ich habe ein dringendes Problem.« Sie beäugte ihn immer noch mißtrauisch. Wie der alte Mann hatte auch sie bläuliche Schatten unter den Augen und im Ganzen etwas Nervöses.
In diesem Haus hat heute nacht auch niemand viel Schlaf gefunden,
dachte Chert. Er selbst fühlte sich, nachdem er die ganze Nacht durch die Funderlingsstadt und sogar durch die oberirdische Südmarksburg gestapft war, wie eine juckende Haut, die nichts als schale Leere umspannte. Nur die Angst um den Jungen hielt ihn noch aufrecht.
    »Es geht nicht«, sagte sie. »Wenn Ihr ärztliche Hilfe braucht, müßt Ihr Bruder Okros an der Akademie aufsuchen oder vielleicht einen Bader in der Stadt.«
    »Aber ...« Er holte Luft, bezwang den Drang, diese beiden Starrköpfe anzuschreien. »Mein ... mein Sohn ist verschwunden. Chaven kennt ihn — ich war schon einmal mit ihm hier. Er ist ... er ist ein ungewöhnlicher Junge. Ich dachte, Chaven hätte vielleicht eine Idee ...«
    Das Gesicht der Frau wurde weicher. »Oh, der arme Kleine! Einfach verschwunden? Und Ihr, Ihr Ärmster, müßt ja vor Sorge völlig außer Euch sein.«
    »Ja, das bin ich auch.«
    Der Diener verdrehte die Augen und verschwand. Die Frau trat in den Hof hinaus, trocknete sich die Hände an

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