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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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verwundet, aber es schien unmöglich, daß irgend jemand eine solche Nacht überleben konnte. Sie umklammerte ihre Kinder und weinte, und jedes Schluchzen war ein schneidender Schmerz in ihrer rauchversengten Kehle.
    Weg, alles weg —
Onsin, ihr Haus, ihre wenigen Habseligkeiten. Nur diese beiden keuchenden, kostbaren kleinen Geschöpfe hielten sie davon ab, zurückzulaufen und sich in die Flammen des brennenden Milnersford zu werfen. Aber das schrecklichste war: als sie mit ihren zitternden Kindern dort auf dem kalten Erdboden lag, gleich vor der dahingemetzelten Stadt, konnte sie die Zerstörer all dessen, was sie besessen hatte, hören. Sie sangen. Ihre Stimmen waren unfaßbar lieblich.
    Dann verschlang sie das Dunkel, aber nur für eine Weile.

28

Der Abendstern
    Weißer Sand:
Sieh, wie der Mond Diamanten verstreut,
Sein Werk ist Bein und Licht und Staub
Im Garten, in den sich niemand verirrt.

Das Knochenorakel
    Sie wußte nicht mehr, wie viele Begünstigte es gewesen waren, die sie wie ein schlecht verpacktes Paket übernommen, zur nächsten Station gebracht und dort weitergegeben hatten, aber schließlich wurde sie in den Empfangsraum der Ersten Ehefrau geführt. Arimone sah aus ihren Sitzkissen auf und lächelte milde, als Qinnitan vor ihr auf die Knie fiel. »Oh, steh auf, Kind«, sagte sie, obwohl sie selbst auch noch fast wie ein junges Mädchen aussah. »Sind wir hier nicht alle Schwestern?«
    Wenn wir alle Schwestern wären,
dachte Qinnitan,
hätte ich mich gar nicht erst auf die Knie geworfen.
Die Einladung war am Morgen gekommen, und Qinnitan hatte Stunden in den routinierten Händen eines halben Dutzends Begünstigter und weiblich geborener Sklavinnen verbracht, bis ihre äußere Erscheinung zu so strahlendem Glanz poliert war wie ein Juwel, nur um dann, nach reiflicher Überlegung, wieder in den Rohzustand versetzt und auf etwas weniger formelle Art zugerichtet zu werden.
    »Wir wollen ja schließlich nicht, daß der Abendstern denkt, wir hätten irgendwelche Ambitionen, der Morgenglanz zu werden, nicht wahr?« sagte eine Begünstigte namens Rusha mit gespielter Strenge. »Wir werden schön sein — aber nicht
zu
schön.«
    Luian, die sich in letzter Zeit etwas zurückhielt, fast als schämte sie sich dafür, Qinnitan zu Jeddin in den Duftgarten gebracht zu haben, war an den Vorbereitungen für die Audienz nicht beteiligt gewesen, hatte aber eine ihrer Tuani-Sklavinnen geschickt, damit sie Qinnitan mit ihrem Haar half, das jetzt auf ihrem Kopf zusammengeschlungen und mit zwei edelsteinbesetzten Nadeln festgesteckt war. Qinnitan war zunächst von ihrem Spiegelbild sehr angetan gewesen, aber jetzt schien ihr das reine Torheit: Arimone, vielleicht zehn Jahre älter als sie, war ohne Frage die schönste Frau, die sie je gesehen hatte oder sich auch nur hätte vorstellen können: wie ein Tempelbildnis der Surigali selbst, das jettschwarze Haar so lang, daß es sich selbst zum Zopf geflochten noch wie eine schlafende Schlange über die Sitzkissen wand. Qinnitan fragte sich, wie eine solche Haarflut wohl offen und glattgebürstet aussehen mochte. Und sie war sich sicher, daß sich jeder, der Arimone begegnete, mit Sicherheit aber jeder richtige Mann, dasselbe fragen mußte.
    Die Erste Ehefrau des Autarchen hatte eine faszinierende Figur, schmale Taille und breite Hüften, was beides durch das enge Kleid noch betont wurde, und sie hatte ein perfektes, herzförmiges Gesicht, aber es waren die Augen — dicht bewimpert und fast so schwarz wie ihr Haar —, die sie so wirken ließen, als gehörte sie unter die Göttinnen im Himmel, statt hier im Frauenpalast zwischen bloßen Sterblichen zu schmachten. Qinnitan, die sich ohnehin in ihren feinen Gewändern schon wie eine Hochstaplerin vorgekommen war, fühlte sich jetzt plötzlich gar nicht mehr wie eine der allmächtigen Auserwählten des Autarchen, sondern wie das dreckigste aller Straßenmädchen.
    »Komm her, setz dich zu mir«, sagte Arimone, und ihre Stimme war so leicht und melodisch, als steckte dahinter langjähriges, anstrengendes Üben. »Magst du etwas Tee? Ich trinke ihn an solchen Tagen am liebsten kalt, mit viel Minze und Zucker. Das ist sehr erfrischend.«
    Qinnitan gab sich alle Mühe, Platz zu nehmen, ohne über eins der gestreiften Kissen zu stolpern, die in der Mitte des Raums lagen. In einer Ecke spielte ein kleines Mädchen überraschend gut Laute. Mehrere Dienerinnen saßen, wenn sie ihrer Herrin gerade nicht aufwarteten, ebenfalls in den

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