Die Grenze
Berg, um ihn auf ihrer aller Leben niedersausen zu lassen und alles zu Staub zu zermalmen.
Milnersford stand in Flammen, aber das Feuer war ihre geringste Sorge. Die Straßen waren voller schreiender Gestalten; manche bluteten, andere rannten einfach nur ziellos herum, die Augen riesig und dunkel in den bleichen Gesichtern, die Münder klaffende Löcher. Es war, als hätte die Erde sämtliche Toten ausgespien. Finia konnte nicht denken, wollte nicht denken — dieses Grauen war zu groß, um in einen einzigen Kopf, ein einziges Herz zu passen, zumal sie noch zwei weinende verängstigte Kinder festhalten und einen Ort finden mußte, wo keine Flammen loderten, wo keine Leute schrien. Aber einen solchen Ort gab es nicht.
Das allerschlimmste waren die schemenhaften Gestalten der Eindringlinge, die sie da und dort erblickte, unmögliche Albtraumwesen, die über Mauern kletterten und über Dächer huschten — manche wie Tiere, andere so verkrümmt und verrenkt, wie es eigentlich für Lebewesen, die eine Rüstung und Waffen zu tragen vermochten, undenkbar war. Als sie die Kinder den Rand eines öffentlichen Platzes entlang zerrte, erblickte sie eine großgewachsene Gestalt auf einem steigenden Pferd inmitten einer Traube von Männern, Männern aus Milnersford, und diese Gestalt sah so menschlich aus, daß sie für einen Augenblick wieder Mut schöpfte — da war ein Edelmann, vielleicht sogar Graf Rorick selbst, den Finia trotz seiner großen Bedeutung in ihrem Leben noch nie gesehen hatte. Ja, Rorick mußte von seiner Burg Dalenhall herabgekommen sein, um die verängstigten Bürger um sich zu scharen und gegen diese unheimlichen Eindringlinge zu führen. Aber dann sah sie, daß dieser struppige Reiter größer war als jeder Mensch, daß er zu viele Finger an den langen weißen Händen hatte und daß seine Augen, wie auch die seines Pferdes, so gelb glommen wie Katzenaugen. Und die Männer um ihn herum, die, von denen sie geglaubt hatte, er würde sie um sich scharen, duckten sich stöhnend unter den Hufen des Pferdes, während er sie mit seinem langen Speer stieß, sie wie eine Herde Schafe vor sich hertrieb, in die Versklavung oder in den Tod.
Agnes stolperte, und Fergil begann zu schreien. Sie nahm beide auf den Arm und taumelte weiter. Sie war jetzt in einem Teil der Stadt, der ihr so gut wie unbekannt vorkam, aber in dieser gräßlichen Nacht hatte sich alles verändert: Es konnte ebensogut ihre eigene Straße sein, ihr eigenes Haus, an dem sie vorbeiwankte, während bellende und heulende Gestalten aus den Fenstern quollen wie Käfer aus einem gespaltenen Baumstamm. Über ihr waren die Sterne verschwunden. Das verstand Finia auch nicht. Warum waren da keine Sterne, und warum hatte der Himmel dieses dumpfe, dunkle Rot angenommen? War das Blut? Blutete die ganze Stadt in den Himmel? Dann war es ihr plötzlich klar. Es war der Rauch des brennenden Milnersford, der dafür sorgte, daß nicht einmal der Himmel sehen konnte, was da geschah.
Sie war jetzt in einer Menschenmenge, doch es war eher ein Menschenstrom, eine Flut von Schreien und fuchtelnden Armen, die sich durch die Reetschneiderstraße ergoß, vorbei am Trigonatstempel. Außenmauern und Dach des Tempels wimmelten von etwas, das fast wie Moos aussah, aber glomm wie dumpfes Wetterleuchten. Die Priester waren fast alle erschlagen, wenn auch einige trotz ihrer schrecklichen Wunden noch am Boden krabbelten. In ihrer panischen Hast trampelte die Menge die Überlebenden tot, was vielleicht eine Gnade war. Selbst Finia trat auf eine reglose menschliche Gestalt, ohne sich weiter darum zu kümmern — alles, was sie tun konnte, war, auf den Beinen zu bleiben. Sie konnte nicht stehenbleiben, nicht umkehren, konnte schon gar kein Mitleid auf Tote und Sterbende vergeuden. Sie war von allen Seiten eingekeilt und konnte nur noch daran denken, Agnes und Fergil ganz fest zu halten, so fest, daß nicht einmal die Götter sie ihr zu entreißen vermochten.
Wer fiel, wurde zertrampelt. Die Menge bewegte sich wie ein einziges Lebewesen, suchte das offene Osttor und das dahinterliegende Dunkel, die gesegnete Kühle des freien Felds, wo keine Flammen loderten.
Finia rannte, bis sie nicht mehr konnte, kämpfte sich dann an den Rand des Menschenstroms, der jetzt langsamer und dünner wurde.
Sie waren außerhalb der Stadtmauer, auf einem kniehohen Stoppelfeld, als sie schließlich erschöpft und hilflos zu Boden sank. Sie fragte sich, ob sie jetzt auch sterben würde. Sie war nicht
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