Die Grenze
Hennen wurden ihr Getue leid und begannen, hinter ihrem Rücken zu reden, aber die törichte Henne beachtete es gar nicht.
›Alles nur Neid‹, sagte sie sich. ›Wen kümmert es, was sie denken? Sie haben doch nichts zu sagen, verglichen mit dem Mann, der uns füttert. Auf seine Meinung kommt es an, und er wird meine Qualitäten erkennen. ‹ Also nahm sie sich vor, die Beachtung des Mannes zu erringen, der jeden Tag kam, um Körner auf den Boden zu streuen.
Sooft er erschien, drängte sie sich zwischen den anderen Hennen hervor, reckte den Kopf, warf sich in die Brust und spazierte vor dem Mann auf und ab. Wenn er wegsah, rief sie: ›Gagaak! Gagaak!‹, bis er wieder in ihre Richtung schaute. Aber er behandelte sie noch immer nicht anders als die anderen Hennen. Da wurde die törichte Henne sehr wütend und beschloß, alles zu tun, um dem Mann aufzufallen.«
Qinnitan überlief wieder ein Schauer. Enthielt diese Geschichte irgendeine Lehre? Wollte Arimone andeuten, die kleine Braut habe sich irgendwie aufgespielt, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Die des Autarchen? Oder wessen? Es war alles so undurchsichtig, aber die Strafe würde nicht minder tödlich sein, nur weil das Verbrechen nicht ganz klar war. Plötzlich wollte sie nur wieder im Bienenstocktempel sein, umgeben vom freundlichen Summen der heiligen Bienen.
»Die törichte Henne konnte nicht mehr schlafen, weil sie immer darüber nachdachte, wie sie die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich lenken könnte. Ihre hübsche Stimme hatte nichts genützt. Vielleicht mußte er ja sehen, daß er ihr mehr bedeutete als den anderen Hennen, aber wie sollte sie es ihm zeigen? Sie beschloß, mehr von den ausgestreuten Körnern zu fressen als alle anderen, also folgte sie ihm von dem Moment, da er kam, bis er wiederging, pickte nach den anderen Hennen, um sie zu verscheuchen, und fraß so viel Korn, wie sie irgend konnte. Die anderen Hennen verachteten sie, als sie immer fetter und runder wurde, aber der Mann sprach noch immer nicht mit ihr, bevorzugte sie in keiner Weise. Sie beschloß, zu ihm zu fliegen und ihm zu zeigen, daß nur sie seiner Beachtung wert war. Das war nicht leicht, weil sie inzwischen ziemlich schwerfällig war, aber indem sie jeden Tag übte, schaffte sie es schließlich, ein ganzes Stück weit zu flattern.
Eines Tages, als der Mann mit dem Körnerstreuen fertig war und wieder zum Haus zurückging, flog die Henne hinter ihm her. Es war schwerer, als sie gedacht hatte, und sie holte ihn erst ein, als er bereits durch die Tür war. Schnell flog sie ebenfalls ins Haus, aber drinnen war es dunkel, und sie konnte nichts sehen, also rief sie: ›Gagaak! Gagaak!‹, damit er wußte, daß sie da war.
Der Mann kam zu ihr und hob sie hoch. Ihr Herz war voller Freude.
›Ich habe versucht, dich zu ignorieren, du fettes Ding‹, sagte er, ›weil ich dich für das Auferstehungsmahl am Ende der Regenzeit aufsparen wollte, aber jetzt bist du hier in meiner Küche und schreist aus vollem Hals. Ganz offensichtlich ist es Gottes Wille, daß ich dich jetzt verspeise‹ Und damit drehte er ihr den Hals um und heizte den Herd an ...«
Qinnitan stand jäh auf, und der alte Hasuris verstummte. Er guckte ein wenig beschämt, als ob er irgendwie gewußt hätte, daß die Geschichte sie bestürzen könnte, was aber doch wohl unmöglich war. »Ich ... ich fühle mich nicht ganz wohl«, sagte sie. Ihr war schlecht und schwindelig.
Arimone sah sie mit großen Augen an. »Arme kleine Schwester! Kann ich dir irgend etwas bringen lassen?«
»Nein, ich ... ich glaube, ich sollte lieber nach Hause gehen. Es tut mir sehr l-l-leid.« Sie schlug sich die Hand vor den Mund — sie hatte plötzlich das Gefühl, sich gleich auf die hübsch gestreiften Kissen der Ersten Ehefrau erbrechen zu müssen.
»Oh, nein, mußt du wirklich gehen? Vielleicht würde dir ja noch ein wenig Minztee guttun. Der beruhigt den Magen.« Arimone ergriff Qinnitans Becher, streckte ihn ihr hin und guckte sie mit unschuldigen Rehaugen an. »Komm, kleine Schwester. Trink noch ein bißchen. Er ist nach meinem Spezialrezept gemacht und beseitigt so ziemlich alle Übel.«
Entsetzt schüttelte Qinnitan den Kopf und stolperte hinaus, ohne sich auch nur zu verbeugen. Sie hörte die Sklavinnen hinter sich lachen und wispern.
29
Der Leuchtende Mann
Fünf weiße Wände:
Hier ist das Etwas mit dem Schwanz im Maul,
Hier ist das Innere nach außen gekehrt,
Das Äußere nach innen.
Das Knochenorakel
»Hört
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