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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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darüber nachdenken mußte, ob man sich nach seiner Familie sehnte oder nicht. Sie überspielte ihre Verwunderung damit, eine Kerze auszuwählen, anzuzünden und auf den Altar vor der Zorienstatue zu stellen. In dieser Darstellung wirkte die Göttin ruhiger und gesetzter als auf dem Buntglasbild; ihre Arme hingen herab, und sie hielt den Blick gesenkt, als schaute sie auf ihre Füße, aber da war dieses leise Lächeln um ihre Lippen, das Briony immer schon gefallen hatte, das Lächeln einer Frau, die ihre eigenen Gedanken dachte. Moina und Rose kamen herbei und entzündeten ebenfalls Kerzen, schienen dabei aber beide ein bißchen unsicher und machten das Dreifingerzeichen des Trigon auf der Brust. Sie taten ihr Bestes, machte Briony sich klar, um den aufkeimenden Ärger auf die beiden zu bezwingen: Sie kamen aus ländlichen Familien und hatten kaum je etwas mit Zorienverehrung oder gar Zorienschwestern zu tun gehabt, ehe sie auf die Festung gekommen waren.
    Barmherzige Zoria, die du in Klugheit gewandet bist, laß meinen Bruder Barrick heil wiederkommen,
betete Briony.
Laß sie alle heil wiederkommen, sogar den Wachhauptmann Vansen. Er ist gar nicht so ein schlechter Kerl. Und hilf mir, das Beste für Südmark und für unser Volk zu tun.
Sie sah auf, in der Hoffnung, in Zorias Gesicht irgend etwas zu entdecken, was anzeigte, daß die Göttin sie gehört und ihre Bitte wohlwollend entgegengenommen hatte (sie war ja schließlich die Prinzregentin — das mußte doch irgendwie zählen, oder?), aber die heiter-gelassenen Züge der jungfräulichen Perinstochter waren unverändert.
    Plötzlich fiel es ihr wieder ein.
Und laß Vater heil aus Hierosol zurückkehren.
Darum hatte sie bisher täglich gebetet, aber heute hätte sie es beinah vergessen. Ein kalter Schauer überlief sie. Hatte das etwas zu bedeuten? Flüsterte ein Gott ihr etwas zu, versuchte er ihr mitzuteilen, daß ihrem Vater etwas zugestoßen war? War das womöglich ihre Schuld — hatte sie sich zuviel auf ihre Fähigkeiten als Regentin von Südmark eingebildet?
    »Ich hatte gehofft, dieser Ort würde Euch etwas Frieden schenken, Prinzessin«, sagte ihre Lehrerin. »Aber Ihr seht beunruhigt aus.«
    »Ach, Utta, wie sollte ich denn sonst aussehen?«

    Bruder und Schwester schwiegen, während sie die Dammstraße durch die Brennsbucht entlangritten, auf dem Weg zum Sammelplatz der ausgehobenen Truppen, einem riesigen Streifen abgeernteten Lands, eine Wegstunde entfernt, am südlichsten Rand von Avin Brones Grafschaft Landsend. Es war ein klarer, kalter Tag, aber der Wind legte zu. Er wickelte Barrick den neuen Umhang, den ihm Merolanna bestickt hatte, so um den Hals, daß es sich anfühlte wie der Griff eines Würgers. Er stöhnte, als er sich mit dem verkrüppelten Arm befreien mußte, sagte aber nichts. Er wußte, Briony wollte, daß er etwas sagte, aber er wollte nicht hören, was sie darauf antworten würde.
    Von der Mitte des Dammwegs aus konnten sie sehen, daß die von der Ebbe freigelegten Schlickflächen am Fuß des Midlanfels von Arbeitern wimmelten — es schien fast noch einmal ein Heer für sich, das da auf roh gezimmerten Plattformen über dem Schlick am Werk war. Die Leute hatten die Marktbudenstadt vor dem Tor abgerissen und waren jetzt dabei, das Stück Dammweg direkt unterhalb der Ringmauer zu zerstören, um es dann durch eine Holzbrücke zu ersetzen, die man blitzschnell einreißen konnte, damit anrückende Invasoren gezwungen wären, über sumpfigen Schlick zu reiten, durch Wasser, das ihren Pferden bis zum Hals stand, oder aber bei Flut mit Booten über die tückischen Strömungen der Bucht zu setzen, noch dazu unter Beschuß von den Mauern. Kein Wunder, dachte Barrick, daß Erivor, der Herr des dunklen Meeres, immer schon der besondere Schutzpatron der Eddons gewesen war. Wem, wenn nicht dem Meeresgott, verdankten sie diese nahezu uneinnehmbare Bastion?
    Hier werden Briony und die anderen in jedem Fall sicher sein,
dachte er.
    Seine Zwillingsschwester schien diesen Gedanken nicht zu teilen: Sie knabberte an ihrer Unterlippe, wie sie es immer zu tun pflegte, wenn sie irgend etwas beunruhigte, eine Gewohnheit aus Kindertagen, die sie so unverändert beibehalten hatte, daß sie schon fast wie ein geliebtes Andenken wirkte. Er folgte ihrem Blick. Der Gardehauptmann, Vansen, ritt ganz in ihrer Nähe. Barrick verspürte einen Eifersuchtsstich, obwohl er wußte, daß das absurd war.
    Den haßt sie immer noch,
dachte er.
Haßt ihn so sehr, daß es

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