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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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das durchs Portal hereinfiel, allesamt mit Gesichtern, die beherzt und ermutigend wirken sollten, und plötzlich wurde ihm klar, daß jeder dieser Männer in seinem eigenen Kopf lebte, genau wie er selbst, und daß auch von den Hunderten von Menschen, die ungeduldig draußen auf der Tempeltreppe standen und darauf warteten, einen Blick auf den Adel von Südmark zu erhaschen, jeder in seinem eigenen Denken lebte, so einzeln und isoliert wie er.
    Es ist, als ob wir auf tausendmal tausend Inseln inmitten eines Meers lebten,
dachte er,
aber ohne Boote. Wir können einander sehen. Wir können einander etwas zurufen. Aber keiner von uns kann seine eigene Insel verlassen und eine andere besuchen.
    Dieser Gedanke war für ihn viel überwältigender als das gesamte Ritual, das er eben im Tempel mitgemacht hatte, und so bemerkte er zunächst gar nicht, daß die Menschenmenge auf den Stufen die Kette der Wachen immer weiter zum Tempelportal zurückdrängte, daß das gemeine Volk, durch das Gerede von einem bevorstehenden Krieg und noch unheimlicheren Dingen in Angst und Schrecken versetzt, kurz davor war, eben jene, die es schützen sollten, niederzutrampeln. Einige Priester schickten sich an, das große Portal wieder zu schließen. Die Garden drängten die Menge mit ihren langen Pikenschäften zurück, und ein paar Leute bekamen schmerzhafte Stöße ab oder gingen zu Boden. Eine Frau schrie. Einige Männer versuchten jetzt, den Garden die Piken zu entreißen. Ein paar Dreckklumpen klatschten auf die Stufen; einer traf einen Baron aus Marrinswalk am Bein, und der Mann starrte den Flecken auf seiner sauberen Hose so verdattert an, als wäre es Blut. Rorick schrie erschrocken auf, vielleicht ebensosehr aus Sorge um seine makellose Kleidung wie aus Angst um Leib und Leben. Und dann, als wäre das alles ein Traum — er war in Gedanken immer noch bei den Menschen und den Inseln —, sah Barrick, wie Tyne das Schwert zog, hörte das Rasseln und Zischen von einem Dutzend Klingen, die aus ihren Scheiden fuhren, als die anderen Edelleute es Wildeklyff nachtaten. Der Geruch der auf sie eindrängenden Menge hatte etwas Tierisches, fremd und beängstigend.
    Tyne und die anderen — sie werden jetzt Leute töten,
wurde ihm plötzlich klar. Das schien kaum glaublich, wie ein Unwetter aus heiterem Himmel.
Oder vielleicht werden die Leute auch uns töten. Aber warum?
Er sah in die Gesichter um ihn herum, sah, wie sich in den Mienen der Edelleute und der gemeinen Leute die Erkenntnis spiegelte, daß alles aus den Fugen geriet, aber keiner wußte, wie er dieses Geschehen aufhalten sollte.
    Aber ich kann es aufhalten,
wurde ihm bewußt. Es war ein berauschendes Gefühl, wenn auch ein seltsam unfreudiges. Er hob die gesunde Hand und ging ein paar Stufen hinunter. Tyne wollte ihn festhalten, aber Barrick wich ihm aus.
    »Aufhören!« rief er, aber in dem Geschrei der verängstigten Masse verstand ihn niemand: Die meisten Leute, die zum Tempelportal hinaufstarrten, konnten ihn nicht einmal sehen. Er drehte sich um, rannte mit ein paar langen Sätzen die Treppe wieder hinauf, zu den immer noch halb offen stehenden Bronzetüren — einer der klügeren Priester, vielleicht Sisel selbst, hatte erkannt, daß es keine gute Idee war, den Prinzregenten und die anderen Edelleute auszusperren, solange sie vom wütenden Pöbel umringt waren — entriß dann dem nächststehenden Gardesoldaten die Pike, was der Mann mit so bestürzter Miene geschehen ließ, als dächte er, daß ihn Barrick aus irgendeinem unerfindlichen Grund mit seiner eigenen Waffe niederzustrecken gedachte. Aber Barrick benutzte die Pike, um damit gegen die Bronzetür zu hämmern, daß die lauten Schläge über den ganzen Hof hallten. Köpfe wandten sich ihm zu, und das Geschrei ließ langsam nach.
    Barrick keuchte: Es war schwer, die Pike mit nur einer Hand zu schwingen. Er hatte sie sich unter den Arm klemmen müssen, aber es hatte geklappt. Die meisten Leute starrten jetzt mit offenem Mund zu ihrem jungen Prinzen hinauf.
    »Was wollt ihr?« rief er. »Wollt ihr uns wirklich erdrücken? Wir ziehen aus, um zu kämpfen, für diese Stadt — für unser Land. Im heiligen Namen der Drei, was denkt ihr euch dabei, so zu drängen?«
    Einige der Leute ganz vorn bei den Wachen traten beschämt zurück, aber andere steckten im Gedränge fest; den Beinahe-Tumult aufzulösen war so schwierig, wie eine komplizierte Stickerei wieder aufzumachen. Ein Wachsoldat, der immer noch mit einem verdrossenen

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