Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
schon als Säugling. Die Autarchen des Obstgartenpalasts und ihre höchsten Bediensteten umgaben sich von jeher gern mit solchen Knaben, die weder Geheimnisse ausplaudern noch schreien konnten, ganz gleich, wie grausam man sie behandelte. »Armes Kerlchen«, sagte Qinnitan mehr zu sich selbst — es kam ihr zuerst gar nicht in den Sinn, daß jemand, der nicht sprechen konnte, vielleicht dennoch Gesprochenes zu verstehen vermochte. »Ich tu dir nichts«, sagte sie in der Hoffnung, daß ihn zumindest ihr Ton beruhigen würde. Sie sprach zu laut, wurde ihr klar — sie würde ihre Dienerinnen wecken, und obwohl ihr das eben noch mehr als recht gewesen wäre, wollte sie jetzt plötzlich nicht, daß jemand hereinkam. Sie sagte so leise, daß nur das verletzte Kind es hören konnte: »Ich will dir helfen. Es tut mir leid. Verstehst du? Ich dachte, du wärst ... Du hast mir angst gemacht.«
    Der Junge wimmerte wieder, ließ jedoch zu, daß sie seine Wunde untersuchte. Sie war lang, aber nur oberflächlich. Dennoch war der Bund seiner weißen Leinenhose bereits blutgetränkt. Qinnitan kramte hastig herum, fand einen der sauberen Lappen, die auf ihr nächstes Mondblut warteten, preßte ihn auf den Kratzer, förderte dann ein altes Kopftuch zutage und band es dem Jungen um die Taille, um den Lappen zu befestigen.
    »Die Wunde ist nicht schlimm«, flüsterte sie. »Verstehst du mich?«
    Vorsichtig berührte er das Tuch. Er sah immer noch aus, als könnte er jeden Moment die Flucht ergreifen, nickte aber schließlich.
    »Gut. Tut mir leid, daß ich dich verletzt habe. Was machst du hier?«
    Selbst im trüben Lampenschein sah sie ihn so jäh erbleichen, daß sie schon fürchtete, ihn doch tödlich verletzt zu haben. Sie wollte ihn festhalten, doch er rappelte sich grunzend hoch und griff in seinen blutgetränkten Hosenbund, gab dabei leise gurrende Laute von sich wie eine Taube. Er zog einen Beutel hervor, der zwischen Körper und Kleidung gesteckt hatte. Der Beutel war voller Blut, und sie zögerte zuerst, ihn entgegenzunehmen, aber das ängstliche Gesicht des Jungen sagte ihr, daß er fürchtete, der Inhalt hätte Schaden gelitten. Sie nahm den Beutel und sah, daß die Zugschnur mit Silberfaden und Wachs versiegelt war. Sie hielt die Lampe dicht daran, erkannte jedoch das Siegel nicht gleich. Qinnitan holte tief Luft, jetzt plötzlich wieder ängstlich, aber der Junge winselte wie ein Hund, der darauf wartet, zur Tür hinausgelassen zu werden. Also erbrach sie das Siegel, öffnete den Beutel und schüttelte den Inhalt in ihre Hand: eine Pergamentrolle und einen goldenen Ring.
    Die Unterschrift am unteren Rand der Pergamentrolle lautete »Jeddin«. Sie fluchte wieder, diesmal jedoch lautlos.
    »Alles in Ordnung«, sagte sie. »Nichts passiert — das Blut ist nicht durchgedrungen. Wer schickt mir das hier, der Hauptmann? Der Leopardenhauptmann?«
    Der Junge schüttelte verdutzt den Kopf. Qinnitan war perplex, dann kam ihr ein neuer Gedanke. »Luian? Die Begünstigte Luian? Hat sie dich geschickt?«
    Jetzt lächelte er, wenn auch matt und sichtlich unter Schmerzen. Er nickte.
    »Gut. Du hast getan, was dir aufgetragen wurde. Jetzt mußt du wieder gehen, genauso leise, wie du gekommen bist, damit niemand dort draußen aufwacht. Es tut mir wirklich leid. Laß dir die Wunde richtig verbinden. Sag ... sag, du bist im Garten auf einen Stein gefallen.«
    Der Junge guckte skeptisch, stand aber auf und befühlte seinen Verband, um sich zu vergewissern, daß er noch richtig saß. Er verbeugte sich vor ihr, und diese Förmlichkeit — mitten in der Nacht, im Lampenschein, hier auf dem blutverschmierten Fußboden — war so bizarr, und der Schock saß noch so tief, daß sie fast lachen mußte. Er schlüpfte durch die Vorhänge und war verschwunden.
    Qinnitan wartete, lauschte in die Stille und bückte sich dann, um den Fußboden mit einem ihrer restlichen Lappen zu säubern. Beim Gedanken, lesen zu müssen, was Jeddin ihr geschrieben hatte, erfüllten sie Bitterkeit und Angst. War es irgendein albernes Liebesgedicht, das beinah ein Kind das Leben gekostet hätte? Oder war es etwas Akuteres und Gefährlicheres, bestellte er sie wieder zu einem Treffen, mit den gleichen Drohungen, mit denen er Luians Mithilfe erzwungen hatte?
    Als sie fertig war und der Raum wieder genauso aussah wie vor dem mitternächtlichen Besuch, stellte sie die Lampe auf ihren Nachttisch, setzte sich im Schneidersitz aufs Bett und beugte sich dicht über die Botschaft,

Weitere Kostenlose Bücher