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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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hängenbleiben und ihm, falls sich herausstellte, daß etwas dran war, irgendwie helfen.
    Sie betete zu den Göttern, daß ihre Torheit und mangelnde Festigkeit keine schrecklichen Folgen hätten.
    »Was es heißt?« Der Schankknecht schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht — die Stimmen erklären es mir nicht, sie sprechen einfach nur so, daß ich sie hören kann, wie Leute hinter einer Wand.« Er atmete aufreizend langsam durch. »Jetzt passiert das öfter, weil sich die Welt verändert.«
    »Verändert?«
    »Oh, ja. Weil die Götter wieder erwachen.« Er sagte es ganz schlicht, so als wäre es eine Wahrheit, die jedermann zugänglich war. »Hier unter unseren Füßen.«

31

Nächtlicher Besuch
    Eine Geschichte:
Sie wird erzählt, auf den Gängen,
In den Höfen.
Sie ist nichts als das Rascheln von Taubenflügeln.

Das Knochenorakel
    Die Gebete und Rituale des heutigen Tages waren besonders strapaziös gewesen. Qinnitan wurde jetzt fast jedesmal krank, wenn ihr Panhyssir den Trank verabreichte. Manchmal jedoch war sie hinterher auch von einer unnützen, ungerichteten Energie erfüllt, und so ging es ihr jetzt, Stunden nachdem sie die Mitternachtsgesänge gehört hatte. Sie konnte nicht schlafen und war sich nicht sicher, ob sie es wollte, aber sie wollte auch nicht im Bett liegen und ihrem eigenen Atem lauschen.
    Am Morgen, als sie das Elixier des Priesters getrunken hatte, hatte sie förmlich gespürt, wie es ihr Inneres aufscheuerte, so als wäre sie ein Topf, in dem man zum Reinigen Wasser mit kleinen Steinchen kochte. Das verrückte Gefühl der Loslösung aus ihrem Körper wurde auch mit jedem Mal stärker, als ob sie nur noch Gast in ihrem eigenen Leib wäre und noch dazu kein besonders willkommener. Aber das schlimmste, woran sie kaum denken durfte, weil sie es nicht aushielt, war etwas anderes: Wenn sie das Sonnenblut trank und in dieses temporäre, aber schreckliche Dunkel fiel, das so war wie der Tod bei lebendigem Leibe, dann fühlte sie sich wie eine Grille, die an einem Angelhaken steckte, wie ein lebender Köder, der über der tiefsten aller Tiefen baumelte, während unter ihr etwas Riesiges war, das sich bewegte, das witterte, eine Entscheidung traf ...
    Aber was konnte dieses Etwas sein, ein Wesen mit Gedanken, so langsam und schauerwellenartig wie die Bewegungen der Erde selbst?
    Konnte es so ein Wesen überhaupt geben, oder verwirrte der Trank ihren Geist? Vor wenigen Wochen erst hatte eine der jungen Königinnen den Verstand verloren, hatte nicht mehr aufhören können zu lachen und zu weinen. Sie hatte behauptet, die Begünstigten spionierten ihr sogar im Traum hinterher. Sie hatte ihre Kleider zerrissen, war auf den Fluren auf und ab gegangen und hatte Kinderlieder gesungen, bis sie schließlich ganz aus dem Frauenpalast verschwunden war.
    Was wollen diese Leute von mir?
fragte sich Qinnitan verzweifelt.
Wollen sie mich wirklich in den Wahnsinn treiben? Oder bringen sie mich einfach aus irgendeinem Grund ganz langsam um?
    Sie litt inzwischen geradezu an der Zwangsvorstellung, vergiftet zu werden, nicht nur wegen des Oberpriesters und seines gräßlichen Tranks. Sooft ihr jemand einen Becher reichte oder ihr etwas zu essen vorsetzte, das nicht aus einem Gemeinschaftstopf geschöpft worden war, hatte sie das Gefühl, an einem Klippenrand den Fuß ins Leere zu setzen. Es war nicht nur die offene Bosheit der Ersten Ehefrau Arimone — auch viele andere Frauen sahen sie jetzt merkwürdig an, werteten ihre tägliche Unterweisung durch Panhyssir und die anderen Nushash-Priester als Zeichen einer ungerechtfertigten Bevorzugung. Als ob diese tägliche Qual eine Vergünstigung wäre, die sie sich irgendwie erschlichen hatte! Selbst Luian, bisher ihre verläßlichste Verbündete, hatte sich ein Stück weit zurückgezogen. Ihre Unterhaltungen waren jetzt bemüht, wie die Konversation zweier Frauen, die sich auf dem Markt trafen und beide wußten, daß die eine die andere kürzlich vor Dritten schlecht gemacht hatte. Es lag an Jeddin und seiner absurden Leidenschaft für Qinnitan — das trennte sie und Luian wie eine geschlossene Tür.
    Also lag Qinnitan jetzt schlaflos in ihrem schmalen Bett, und ihre Gedanken wimmelten durcheinander wie eifrige Ameisen. Jedesmal, wenn sie gerade das Gefühl hatte, doch einzuschlafen, kam wieder ein Schnarchen von einer ihrer Dienerinnen draußen vor der Tür und rüttelte an ihr wie ein grausames Kind. Die Tage im Bienentempel schienen unfaßbar weit weg. Alles, was

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