Die Grenze
Er ist weiblich, ausschließlich weiblich. Wenn er heraufbeschworen wird, fährt er nur in Frauenkörper.«
»Irrsinn!« rief Anissa.
»Und er ist die bevorzugte Waffe der Hexen von Xand und den südlichsten Ländern Eions. Ländern wie Devonis.«
Anissa wandte sich ihrer Stieftochter zu, die Arme erhoben. Briony wich unwillkürlich ein wenig zurück. »Warum läßt du zu, daß er so mit mir spricht, Briony? War ich nicht immer gut zu dir? Nur weil ich aus Devonis bin, bin ich eine Hexe?«
»Das läßt sich leicht feststellen«, sagte Chaven laut. Er streckte die Hand mit dem kleinen grauen Ding noch näher an die Königin heran. »Hier ist der Stein. Seht ihn Euch an. Diejenige, die ihn benutzt hat, um den Prinzregenten zu ermorden, hat ihn nach Gebrauch weggeworfen, aber ein wenig von der magischen Kraft wird schon noch in ihm stecken. Berührt ihn, Königin Anissa, und wenn Ihr etwas zu verbergen habt, wird es dieser Stein erweisen.« Er hielt den Stein jetzt dicht an ihren bloßen Arm. Anissa wollte zurückweichen, als wäre es eine glühende Kohle, konnte sich aber nicht aus der schützenden Umarmung ihrer Zofe Selia befreien.
»Nein!« Selia riß Chaven den milchiggrauen Stein so schnell aus der Hand, daß sie, als seine Finger sich um gar nichts schlossen, ihre Beute bereits an die Brust drückte. »Das ist nicht nötig«, erklärte das Mädchen und stieß dann etwas aus, was Briony nicht verstand — einen kurzen, scharfen Ruf, wie der eines Falken, der sich auf seine Beute stürzt.
Briony wollte etwas sagen, die junge Frau ob ihrer Einmischung beschimpfen, aber da war plötzlich etwas in der Luft, das ihr das Reden schwer machte, eine Kälte, die ihr in die Ohren drang, als ob sie den Kopf in Wasser gesteckt hätte.
»Ihr könnt euch alle Mühe sparen.«
Selias Stimme schien plötzlich von weit weg zu kommen.
»Ich habe den Stein nicht weggeworfen, wie ein Mann eine Jungfrau wegwirft, wenn sie keine mehr ist. Er ist mir aus der Hand gefallen, weil ich so erschöpft war, und als ich wieder die Kraft hatte, zurückzugehen und ihn zu suchen, war er verschwunden.«
Die Stimme des Mädchens erhob sich zu einem triumphierenden Schrei, scharf, aber dennoch von der seltsam verdichteten Luft gedämpft.
»Einen Kulikos-Stein läßt niemand fallen, Wicht! Nicht freiwillig!«
Mit einer schnellen Bewegung steckte sich Selia den Stein in den Mund.
Sofort begann ihr Gesicht zu verschwimmen und sich zu verändern: Die kerzenerhellte Haut schien wegzuschmelzen, während sich gleichzeitig von innen her etwas Dunkleres ausbreitete. Binnen weniger Herzschläge fraß das Dunkle das Helle, als hätte jemand einen klaren Bach, in dem sich das Gesicht des Mädchens spiegelte, durch einen Steinwurf getrübt. Die stickige Luft im Raum kam endlich in Bewegung, was jedoch keine Erleichterung brachte, denn sie bewegte sich immer schneller, eine Brise, die zum steifen Wind und dann zum Sturm wurde, so wild, daß Staubkörnchen und Steinbröckchen Briony ins Gesicht stachen. Die Wachen schrien erschrocken auf.
Die Kerzen erloschen. Jetzt gab nur noch das Feuer Licht, und selbst seine Flammen neigten sich zu dem dunklen Etwas hin, das vor dem Bett erwuchs und das eben noch die hübsche Zofe Selia gewesen war. Anissa stieß einen dünnen, langgezogenen Schrei aus. Briony sah sich nach Chaven um, doch der war von irgend etwas getroffen worden und lag am Boden, reglos, vielleicht sogar tot. Im Raum roch es jetzt nach heißem Metall, Schlamm und Blut — vor allem aber nach Blut, dampfig und säuerlich.
Seltsamerweise konnte Briony in der gräßlichen Erscheinung immer noch etwas von Anissas Zofe erkennen, einen dichteren Kern, der ihre Gestalt hatte, einen Schimmer ihrer hübschen Züge in der rohen, dunklen Maske, aber hauptsächlich war das Etwas ein vager, wachsender Schemen, ein sich ständig verändernder Schatten, gepanzert wie ein Krebs oder eine Spinne, aber viel unregelmäßiger und unheimlicher. Schartige Platten und Stacheln aus Steinkörnchen und anderer harter Materie erwuchsen und erstarrten vor Brionys angstgeweiteten Augen, als ob sich das Monstrum aus eben jenem Staub bildete, den der Sturm durch den Raum wirbelte.
Augen funkelten aus dem dunkelflimmernden Gesicht, dann hob das Ungeheuer eine unfaßbar lange Hand. Sichelkrallen klickten und kratzten über den Boden, als es sich auf Briony zubewegte. Sie taumelte rückwärts, vor Angst kaum fähig, sich aufrecht zu halten: Sie wußte jetzt ohne jeden Zweifel, was
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