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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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zum Weinen war, aber da war auch etwas Trotziges in ihm, so wie der Felsgrund im Namen und in den Herzen seines Volkes, ein Rest von Stolz, der vor diesen schönen, grimmigen Kreaturen keine Angst zeigen wollte.
    Diese Yasammez streckte jetzt den Arm aus, den Spiegel in den endlos langen Fingern. Das gesichtslose Wesen, das sich Gyir, das Sturmlicht, nannte, trat vor und nahm ihn ihr ab. Gesagt wurde nichts, jedenfalls nichts, was Chert hörte. Gyir verbeugte sich, steckte den Spiegel in den Beutel an seinem Gürtel, strich sich dann auf eine rituell anmutende Art mit den Fingern über die Augen, ehe er sein mächtiges graues Pferd bestieg.
    »Sie hat ihm befohlen, den Spiegel schnell und vorsichtig dem Blinden in Qul-na-Qar zu bringen«, erklärte Gil, als könnte er unausgesprochene Gedanken ebensogut verstehen wie ausgesprochene. »Sie sagt, wenn der Königin im Spiegelglas etwas geschieht, dann wird sie, Yasammez, die ganze Erde Blut weinen machen.«
    Chert schüttelte nur den Kopf. Es fiel ihm schwer, noch irgend etwas konzentriert zu verfolgen. Es war einfach zu viel.
    Gyir schwang sich in den Sattel und hieb dem Pferd die Sporen in die Flanken. Die Hufe des Riesentiers gruben sich in den Boden, dann sausten Pferd und Reiter los und waren so schnell verschwunden wie Marionetten, die man jäh von der Bühne gezogen hatte.
    Nach einigem Schweigen sprach die Frau oder Göttin oder monströse Kreatur namens Yasammez wieder laut, und ihre Stimme surrte wie Kolibriflügel in Cherts Ohren. Gil hörte schweigend zu. Der Blick der Frau schwenkte von Gil auf den Funderling — ihre Augen schienen zu glühen wie zwei Kerzenflammen in einer dunklen Höhle, und Chert mußte wegsehen, ehe er für immer in diese Höhle gesogen wurde —, dann endlich sagte Cherts Gefährte wieder etwas.
    »Ich soll bleiben.« Gil klang weder freudig noch traurig, aber seine Stimme hatte jetzt etwas gänzlich Totes, während sie eben noch eine Spur lebendiger gewesen war. »Ihr könnt gehen, da ja jetzt Waffenruhe herrscht.«
    »Waffenruhe?« Chert fand endlich seine Stimme wieder. »Was heißt das?«
    »Fragt nicht.« Gil schüttelte den Kopf. »Ihr Sterblichen habt die Waffenruhe nicht bewirkt, und ihr habt keinen Einfluß darauf. Aber dem Ort namens Südmark wird nichts geschehen.« Er schwieg, während Yasammez etwas Barsches in ihrer eigenen Sprache sagte. »Für eine Weile«, setzte Gil klärend hinzu.
    Und dann, eh er sich's versah, wurde Chert von rohen Händen gepackt und in den Sattel eines Pferds gehievt, und gleich darauf flogen die Marktstraße und die Stadt an ihm vorbei. Den gepanzerten Reiter hinter sich sah er nicht, nur die Arme, die die Zügel hielten. Wie der Waisenknabe in der beliebtesten Geschichte der Großwüchsigen wagte er nicht, sich umzudrehen, bis er unsanft am Strand bei den Höhlen abgesetzt wurde.
    Chert wußte, er sollte versuchen, sich das alles genau einzuprägen — er wußte, es war irgendwie sehr wichtig; schließlich hatte sein Sohn für diesen Spiegel und den seltsamen Pakt, für den er stand, beinahe sein Leben gegeben —, aber im Moment war alles, was er tun konnte, in den nächsten Stollen zu kriechen und ein Weilchen zu schlafen, damit er es schaffen würde, sich in die Funderlingsstadt zurückzuschleppen.

    Briony führte Chaven durch den überdachten Gang und in den steingepflasterten Hof vor dem Frühlingsturm. Die beiden Wächter, die an der hohen Eingangstür lehnten, nahmen verdutzt Haltung an.
    Sie stiegen zur Tür zu Anissas Gemächern hinauf und klopften an. Nach einer ganzen Weile erst öffnete sich die Tür einen schmalen Spalt. Ein Auge linste hindurch. »Wer ist da?«
    Briony stöhnte ungeduldig. »Die Prinzregentin. Darf ich vielleicht eintreten?«
    Anissas Zofe Selia öffnete die Tür und trat zur Seite. Briony marschierte hinein; ihre beiden Wachen bezogen, nachdem sie sich in dem Raum umgesehen hatten, draußen vor der Tür Posten. Selia sah die Prinzregentin durch gesenkte Wimpern an, als schämte sie sich, sie nicht gleich hereingelassen zu haben, aber als sie Chaven sah, riß sie die Augen weit auf.
    Für mich war es auch eine ganz schöne Überraschung,
dachte Briony.
Sie dürften ihn genausolange nicht mehr gesehen haben.
»Ich komme auf Einladung meiner Stiefmutter, um einen Winterfesttrunk mit ihr zu nehmen«, erklärte sie der jungen Frau.
    »Sie ist dort.« Selias devonisischer Akzent war noch etwas stärker, als ihn Briony in Erinnerung hatte, so als hätte sie vor

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