Die Grenze
Abschied lassen. Wir werden in Kürze im Frauenpalast erwartet.«
Sie nickte. Er hatte hitzige Augen, aber dieses Blitzen wirkte entschieden menschlicher als das, was hinter dem bodenlosen Starren des Autarchen lag.
Im Bienentempel schienen alle Mädchen gewußt zu haben, daß Qinnitan kommen würde.
Vielleicht hat das Orakel es ja geweissagt,
dachte sie bitter. Jetzt würde sie sogar aus dem Gesichtskreis der goldenen Bienen verschwinden, dachte sie, und der Gedanke machte ihr angst. Aus dem Frauenreich des Bienentempels in das Gefängnis des Frauenpalasts. Das schien kein guter Tausch, und wenn es noch so eine überwältigende Ehre war, dafür auserkoren zu sein.
Hohepriesterin Rugan verabschiedete sie mit Stolz, aber wenig Ergriffenheit.
»Du hast große Ehre über uns gebracht«, sagte sie und küßte Qinnitan auf beide Wangen, ehe sie in ihre Gemächer und zu ihren Rechnungsbüchern zurückkehrte. Obernovizin Chryssa hingegen schien ihren Weggang aufrichtig zu bedauern, obwohl auch in ihrem Gesicht großer Stolz stand. »Keine ist je vom Bienentempel in den Frauenpalast gegangen«, sagte sie, und in ihren Augen war dasselbe schwärmerische Leuchten, das sie auch erfüllte, wenn die Bienen sprachen. Es war, als ob Chryssa sich ausmalte, wie wunderbar es wäre, wenn sie an ihrer Stelle erwählt worden wäre.
Qinnitan dachte dasselbe.
»Mußt du wirklich weg?« Duny weinte, schien aber fast so freudig erregt wie Chryssa. »Warum kannst du nicht hierbleiben, bis es soweit ist?«
»Sei nicht töricht, Dunyaza«, erklärte die Obernovizin. »Eine, die die Frau des Autarchen werden soll, kann nicht im Bienentempel leben. Was, wenn jemand ... wenn sie ...?« Chryssa runzelte die Stirn. »Es wäre einfach nicht recht. Er ist der Lebende Gott auf Erden!«
Als die Obernovizin ging, war Qinnitan schon dabei, ihre wenigen persönlichen Habseligkeiten in einen Beutel zu packen — den knochengeschnitzten Kamm, den ihre Mutter ihr geschenkt hatte, als sie zu den heiligen Bienen berufen worden war, eine Halskette aus polierten Steinen von ihren Brüdern, einen winzigen Metallspiegel von ihren Schwestern, das Festtagskleid, das sie nicht mehr getragen hatte, seit sie eine Schwester vom Bienentempel geworden war. Während sie diese Dinge zusammensammelte und dabei, so gut sie konnte, Dunys Fragen zu beantworten versuchte — was sollte sie schon sagen, wenn sie selbst keine Ahnung hatte, was jetzt mit ihr passieren würde, warum sie erwählt worden oder wodurch sie aufgefallen war? —, wurde ihr klar, daß sie von jetzt an keine reale Person mehr sein würde, sondern eine Geschichte.
Ich bin jetzt Qinnitan, das Mädchen, das der Autarch bemerkt und aus ihrer Mitte herausgepflückt hat. Sie werden abends über mich reden. Sie werden sich fragen, ob so etwas noch einmal passieren kann, einer von ihnen. Für sie wird es ein wunderbar romantisches Märchen sein, so wie Dasmet und das Mädchen ohne Schatten.
»Vergeßt mich nicht«, sagte sie plötzlich.
Duny starrte sie verblüfft an. »Dich vergessen? Qin-ya, wie könnten wir ... ?«
»Nein, ich meine, vergeßt nicht die echte Qinnitan. Erfindet keine albernen Geschichten über mich.« Sie starrte ihre Freundin an, der es ausnahmsweise einmal die Sprache verschlagen hatte. »Ich hab Angst, Duny.«
»Heiraten ist gar nicht so schlimm«, sagte ihre Freundin. »Meine große Schwester hat mir erzählt ...« Sie verstummte, die Augen weit aufgerissen. »Ob Götter es wohl genauso machen wie Menschen ...?«
Qinnitan schüttelte den Kopf. Duny würde sie nie verstehen. »Meinst du, du könntest mich mal besuchen kommen?«
»Was? Du meinst ... im Frauenpalast?«
»Natürlich. Dort dürfen doch nur keine Männer hin. Bitte, sag, daß du kommst.«
»Qin, ich ... ja! Ja, ich komme, sobald mich die Schwestern lassen.«
Sie umarmte Duny. Chryssa stand jetzt im Eingang der Novizinnenhalle und erklärte, daß die Soldaten draußen vor dem Tempel allmählich ungeduldig würden. »Vergeßt mich nicht«, flüsterte Qinnitan der Freundin ins Ohr. »Macht mich nicht zu einer ... Prinzessin.«
Duny konnte nur verwirrt den Kopf schütteln, während Qinnitan den Beutel mit ihrer kläglichen Habe nahm und der Obernovizin folgte.
»Noch etwas«, sagte Chryssa. »Mutter Mudry wünscht dich zu sprechen, ehe du gehst.«
»Die ... das Orakel? Mich?« Mudry konnte Qinnitan doch kaum kennen, sie waren sich in der ganzen Zeit, die Qinnitan im Bienentempel verbracht hatte, nie näher gekommen
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