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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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kleineres Kind — oder gar ein Tier, hatte Chert erschrocken gedacht —, und sang unidentifizierbare Liedfetzen. Aber als Chert den Jungen dort weggezogen hatte, hatte Flint seine Fragen so zurückhaltend wie immer beantwortet und nur gesagt, die Geräusche aus der darunterliegenden Höhle machten ihm angst, er höre Stimmen und rieche Sachen.
    »Sachen, die ich nicht verstehe«, war alles, was ihm an Erklärung zu entlocken gewesen war, »die ich nicht verstehen will.« Doch als Chert ein Stück glühende Koralle genommen, sich vor dem Loch hingekniet und den Kopf in die rohe, unbehauene Kalksteinhöhle dahinter gestreckt hatte, hatte er nichts Ungewöhnliches feststellen können.
    Die dringende Arbeit vor sich und das, was Zinnober über die Unruhe unter den Männern gesagt hatte, noch allzu frisch im Kopf, war Chert rasch zu einem Entschluß gelangt: Er wollte nicht, daß der Junge irgendwelche Aufregung stiftete und die Männer von der Arbeit abhielt. Also hatte er Flint die Treppe hinaufgebracht und ihm befohlen, innerhalb des Friedhofs zu bleiben, auf gar keinen Fall aber irgendwo hinzugehen, wo man ihn von den obersten Treppenstufen nicht im Blick hatte. Da Cherts Männer den ganzen Tag Kalksteinbrocken aus der Gruft hinauskarren würden, hatte er gedacht, könnte der Junge ja wohl kaum unbemerkt in größere Schwierigkeiten geraten.
    Jetzt, da Chert darüber nachdachte, während Klein-Bort mit einem in Sand gestippten feuchten Lappen die letzten Unvollkommenheiten wegschmirgelte, wurde ihm klar, daß er von dem Jungen schon eine ganze Weile nichts mehr gehört oder gesehen hatte, obwohl man doch hätte meinen sollen, daß er inzwischen heruntergekommen wäre, um sich sein Vormittagsvesper zu holen. Er rief den Männern, die das Gerüst abschlugen, noch ein paar letzte Ratschläge zu, klopfte Klein-Bort auf die Schulter und stapfte davon, um zu schauen, was der Junge trieb.
    Ein paar von Nynors Großwüchsigen arbeiteten in den äußeren Gruftkammern, richteten sie für die Trauerprozession her, indem sie Fackelruß von den Wänden schrubbten und Binsen und Nimmerwelkblüten auf den Boden streuten. Dieses ganze Pflanzenzeug erfüllte die Felshallen mit einem Duft, der Chert an die Zeiten erinnerte, als er Opalia umworben und mit ihr einen Spaziergang über die Seewiesen von Landsend gemacht hatte. Später hatte sie ihm erklärt, für ein Mädchen, das noch so gut wie nie aus der Funderlingsstadt herausgekommen war, sei es aufregend und beängstigend zugleich gewesen, dort zu stehen und auf das Meer und den endlos weiten Himmel zu schauen. Er erinnerte sich, daß er so stolzgeschwellt neben ihr gestanden hatte, als hätte er das alles für sie gemacht.
    Aber Blumenduft und glückliche Erinnerungen an seine jungen Jahre änderten nichts an der Natur dieses Ortes. Nische um Nische barg die sterblichen Überreste von Eddons, die Südmark regiert hatten, deren Leben bedeutend oder unbedeutend gewesen sein mochte, die jetzt jedoch alle gleich waren.
Aber immerhin, als sie noch lebten, waren sie jemandem wichtig,
dachte er: Ihre Leichname waren von weinenden Trauernden hier heruntergebracht worden, so wie man heute auch den Prinzregenten herbringen würde, und dann in den Stein gebettet worden, um hier zu ruhen, bis die Maschinerie der Zeit sie zu trockenem Staub und Knochenstückchen zerkleinerte.
    Es machte Chert keine Angst, obwohl die Funderlinge ihre Toten nicht begruben, aber er konnte auch die Gegenwart so vieler beendeter Leben nicht einfach ignorieren. Manche der vornehmeren Särge, die aus Stein oder Metall waren, um der Zeit zu trotzen, trugen das Abbild des Bestatteten, nicht so wie er zu Lebzeiten ausgesehen hatte — obwohl es auch davon genügend gab —, sondern im Tode, modernd und verfallend, ein Grabkunststil von vor dreihundert Jahren. Damals, in den Jahren nach der großen Pest, hatten wohl viele Sterbende die Lebenden daran erinnern wollen, wie vergänglich ihr Glück war.
    Warum das ganze Getue?
fragte sich Chert.
Unsere Körper kommen doch aus der Erde, aus all dem, was wir essen, trinken und atmen, und am Ende werden sie wieder zu Erde, was auch immer die Götter mit dem Funken in uns machen mögen.
Aber er konnte nicht so unbeschwert sein, wie er gern gewesen wäre, und obwohl in den Katakomben um ihn herum Großwüchsige eifrig bei der Arbeit waren, ging er doch ziemlich schnellen Schritts. In letzter Zeit — schon vor dem Tod des Prinzregenten — schien allem um ihn herum der kalte

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