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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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als auf ein Dutzend Schritt. Wollte selbst die alte Frau die Gelegenheit nutzen, sich mit dem Autarchen gut zu stellen? Das mußte es sein, dachte Qinnitan.
Aber das Netteste, was er über mich gesagt hat, war, daß ich nicht häßlich sei. Das gibt mir nicht gerade die Macht, viel zu erwirken, oder?
    Sie gingen durch den dunkelsten Teil des Bienentempels. Das schläfrige Summen der Bienen drang durch die Belüftungsschächte hoch droben in den Mauern — es gab im ganzen Bienentempel keinen Ort, wo man ihren Gesang nicht hörte. Falls die Bienen bemerkten, daß eine der jüngeren Novizinnen sie verließ, schien es ihnen nichts auszumachen.
    Der Raum der Orakelpriesterin roch nach Lavendelwasser und Sandelholzrauch. Mutter Mudry saß auf ihrem hochlehnigen Stuhl, das Gesicht erwartungsvoll zur Tür gewandt. Die blinden Augen bewegten sich hinter den Lidern. Sie streckte die Hände aus. Qinnitan zögerte: Sie sahen aus wie Klauen.
    »Ist da das Kind? Das Mädchen?«
    Qinnitan drehte sich um, aber Chryssa hatte sie an der Tür zum inneren Gemach allein gelassen. »Ich bin's, Mutter Mudry«, sagte sie.
    »Nimm meine Hände.«
    »Es ist sehr freundlich von Euch ...«
    »Sch-sch!« zischte sie scharf, aber ohne Ärger, so wie man ein Kind davor warnt, eine offene Flamme zu berühren. Ihre Hände schlossen sich um Qinnitans Finger. »Wir haben noch nie ein Mädchen in den Frauenpalast geschickt, aber Rugan sagt, sie fand dich ... ungewöhnlich.« Sie schüttelte den Kopf. »Wußtest du, daß das alles einst unser war, Mädchen? Surigali war die Herrin des Bienentempels und Nushash ihr demütiger Gefährte.«
    Qinnitan hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, und es war ein langer, verwirrender Tag gewesen. Sie stand stumm da, während Mudry ihre Finger drückte. Die alte Frau schwieg, als ob sie lauschte, das Gesicht zur Decke gerichtet, ähnlich wie vorhin der Autarch ins Leere gestarrt hatte, während er beschloß, einem Mann die Knochen zerschmettern zu lassen, weil er gehustet hatte. Die Hände der Alten schienen wärmer zu werden, fast schon heiß, und Qinnitan mußte sich zwingen, ihre Hände nicht wegzuziehen. Das zerfurchte Gesicht der Orakelpriesterin erschlaffte, dann klappte der zahnlose Mund auf.
    »Es ist, wie ich befürchtet habe«, sagte Mutter Mudry und ließ Qinnitans Hände los. »Es ist schlimm. Sehr schlimm.«
    »Was? Was meint Ihr?« Wußte die Orakelpriesterin irgend etwas über ihr weiteres Schicksal? Würde ihr zukünftiger Gemahl sie töten lassen wie schon so viele?
    »Ein Vogel fliegt vor dem Sturm davon.« Mudry sprach so leise, daß Qinnitan sie kaum hören konnte. »Aber er ist verletzt und vermag kaum noch die Schwingen zu rühren. Dennoch, das ist alles, was an Hoffnung bleibt, wenn der Schläfer erwacht. Das alte Blut ist stark. Keine großartige Hoffnung ...« Sie schwankte ein wenig, hielt dann still, das Gesicht genau auf Qinnitan ausgerichtet. Wenn sie nicht blind gewesen wäre, hätte man meinen können, sie starrte sie an. »Ich bin müde, verzeih mir. Wir können wenig für dich tun, und es nützt nichts, dir angst zu machen. Du mußt dich daran erinnern, wer du bist, Mädchen, das ist alles.«
    Qinnitan hatte keine Ahnung, ob die alte Frau sich immer so benahm, sie wußte nur, daß sie ihr wirklich angst machte, ob sie nun wollte oder nicht. »Wie meint Ihr das? Mich woran erinnern? Daß ich eine Schwester vom Bienentempel bin?«
    »Daran, wer du bist. Und wenn der Käfig offen ist, mußt du losfliegen. Er wird sich nicht zweimal Öffnen.«
    »Aber ich verstehe nicht ...!«
    Chryssa streckte den Kopf zur Tür herein. »Ist alles in Ordnung? Mutter Mudry?«
    Die alte Frau nickte. Sie drückte Qinnitans Hand noch einmal mit ihren ledrigen Fingern, ließ sie dann los. »Erinnere dich. Erinnere dich.«
    Qinnitan schaffte es mit Mühe, nicht zu weinen, als die Obernovizin sie wieder den Soldaten und deren Hauptmann, dem stummen, finster blickenden Jeddin, übergab, damit sie die neue künftige Braut in die verbotene Festung des Frauenpalasts brachten.

12

In Stein gebettet
    Am langen Nachmittag:
Was liegt da gefallen,
Funkelnd am Weg wie Juwelen, wie Tränen?
Sind es Sterne?

Das Knochenorakel
    Chert beobachtete, wie Glimmer und Talk die Wand über der Grabnische glätteten. Die Schiefers konnten manchmal ein bißchen zuviel Familiensinn haben, und da die beiden Hornblendes Neffen waren, hatte er befürchtet, sie würden Ärger wegen der Ablösung ihres Onkels machen, aber bisher

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