Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
Verhältnis zu Müller gesprochen. Er wusste, dass die beiden Probleme hatten. Aber er tat es nicht. Das musste an einem anderen Tag geschehen. Und er wusste schon zwei Sekunden später, dass das eine falsche Entscheidung war.
Svenja hätte ihn am liebsten angebrüllt. Schlafen! Der hatte Nerven. Stattdessen stand sie auf und ging zur Haustür.
Als sie die Staatskarosse auf der schmalen Straße warten sah, dachte sie beinahe trotzig, dass sie das ausnutzen wollte. Sie wies den Fahrer barsch an, sie so schnell wie möglich in den Dienst zu fahren. Er antwortete nur: »Selbstverständlich.«
»Und schalten Sie dieses dämliche Blaulicht aus.«
»Selbstverständlich«, sagte er wieder.
Sie ließ sich in die Tiefgarage fahren und vor einem der Aufgänge absetzen. Mit dem Lift fuhr sie in die dritte Etage, ging in das Zimmer, in dem sie gelegentlich arbeitete oder Instruktionen empfing. Sie hockte sich auf einen der unbequemen Stühle und starrte vor sich hin.
Sie hatte nur eine Chance: Goldhändchen. Falls er überhaupt im Haus war. Falls er nicht zufällig mal dort war, wo er schlief. Falls es einen solchen Schlafplatz für ihn überhaupt gab. Falls er guter Laune war und etwas preisgab. Falls, falls, falls …
Nein, wenn Karl Müller auf der Verlustliste stand, würde Goldhändchen auf jeden Fall im Haus sein.
Sie ging die Flure entlang, als würde sie schlafwandeln, und nahm nichts um sich herum wahr. Auch nicht die vielen Menschen, die Goldhändchens Schattenwelt vierundzwanzig Stunden am Tag auf Hochbetrieb laufen ließen.
Sie drückte auf den kleinen roten Knopf rechts neben der Tür und wusste, dass sich im selben Moment eine Kamera über ihr einschaltete, sodass Goldhändchen sehen konnte, wer Einlass begehrte.
Der Summer ertönte, und sie drückte die Tür auf.
Goldhändchen sagte leicht gereizt: »Setz dich, ich bin sofort bereit.«
»Oh, lass dir ruhig Zeit«, murmelte sie. »Es eilt überhaupt nicht, wir können ja sowieso nichts tun.«
Sie ließ sich in den ekelhaften Ledersessel fallen, dessen Armlehnen so hoch lagen, dass man sich wie bei einer idiotischen Dehnübung und gleichzeitig vollkommen hilflos fühlte.
»Dass wir nichts tun können, halte ich für ein Gerücht«, erwiderte er. Er trug ein seidenes babyblaues Hemd zu einer weißen Leinenhose und spitz zulaufenden weißen Schuhen, und er wirkte perfekt gestylt wie immer. Es roch leicht nach einem guten Aftershave, und er hatte sich blonde Strähnchen färben lassen, die wie Gold schimmerten. Vielleicht war es sogar Gold, verrückt genug war er für so etwas.
»Die Karre steckt im Dreck«, stellte sie fest. »Mein Müller ist verschwunden, und niemand kann sagen, ob er überhaupt noch lebt.«
»Es ist inzwischen aber sehr sicher, dass er lebt, junge Frau«, sagte Goldhändchen. »Ich habe das vor zwanzig Minuten dem Chef übermittelt.«
»Ich weiß. Da komme ich gerade her«, sagte Svenja.
»Du bist ja eine ganz Schnelle!«, sagte Goldhändchen anerkennend und beinahe liebevoll. »Ja, ja, wenn Liebe im Spiel ist …«
»Was weißt du denn schon?«, sagte Svenja.
Er drehte ihr den Kopf zu. »Davon, meine Liebe, weiß ich eine Menge«, widersprach er lächelnd und zeigte dabei eine Reihe blendend weißer Zähne.
Er saß im Halbdunkel vor etwa zwanzig großen Bildschirmen, die er mit einem einzigen handtellergroßen Gerät steuerte, und es hieß, dass er niemals den falschen Knopf drückte, obwohl das schlicht unmöglich schien.
Zuletzt hatte er mit einer Kür geglänzt, die als Wahnsinn klassifiziert werden musste: Er hatte es fertiggebracht, eine hoch geheime Operationskonferenz der großen CIA -Häuptlinge in Echtzeit mitzuschneiden. Und es war ihm gelungen, beinahe zeitgleich ein Zusammentreffen großer chinesischer Industrieller abzuhören, in dem es um zukünftige Einflussnahmen im EU-Bereich ging. Derartige Kunststücke pflegte er durchschnittlich einmal im Monat vorzuführen, und die Kritik an ihm hielt sich daher in sehr engen Grenzen.
»Hast du eine Zigarette?«, fragte Svenja.
»Sag bloß, du willst hier rauchen? Und was sollen meine Pflanzen dazu sagen?«
Er hatte in den ewigen Dämmer seines Arbeitsplatzes ungefähr zwanzig sich hochwindende Pflanzen aus den Tropen gestellt, die er nach einem peinlich eingehaltenen Zyklus von oben bis unten mit Wasser bestäubte und ständig im Dämmer von Speziallampen hielt – Regenwald in Bodennähe.
Krause hatte geäußert: »Der Mann ist unbedingt und vorurteilslos als ein
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