Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
Fitnesstrainer ihm für genau eine solche Situation mitgegeben hatten. Es war Teil des autogenen Trainings, das er seit vielen Jahren nach einer präzisen Anleitung einsetzen konnte. Und ganz ohne jeden Zweifel waren die Übungen äußerst hilfreich.
Er bewegte sich nicht, sondern konzentrierte sich nur auf seinen Körper. Er tastete sich durch die einzelnen Bereiche, fragte ab, ob er irgendwo schmerzte. Die Antwort war eindeutig und schnell: Ja, in der rechten Schädelhälfte und im Bereich des rechten Schultergürtels als Folge des brutalen Schlags. Ein dumpfer, tief sitzender Schmerz. Er fragte seine Extremitäten ab, zunächst die rechte Seite: Füße, Beine, Arme, Schultern, alle Gelenke. Dann das Gleiche für die linke Körperhälfte. Danach der Rumpf, ganz langsam von oben nach unten, schichtweise. Er kontrollierte seine Atmung und erreichte schnell, dass sie langsam, flach und ausgeglichen strömte.
Sein Körper reagierte sofort, er musste pinkeln. Das kannte er schon.
Dann erst öffnete er die Augen.
Das Licht war sehr weich, gelblich. Das Erste, was er sah, waren Teppiche, große Teppiche. Sie hingen offensichtlich an Wänden, arabisches Design, herkömmliche Industrieware. Er lag auf so etwas wie einer Liege, der Kopf etwas erhöht, der Abstand zum Boden war gering, er schätzte dreißig Zentimeter. Er lag auf einem weißen Laken.
Auf dem Boden waren auch Teppiche, die vorherrschenden Farben waren Ocker und ein dunkles Rot. Aus dieser Position war nicht zu erkennen, wie groß der Raum war, aber er musste groß sein, weil der Abstand zum nächsten hängenden Teppich mindestens fünf Meter betrug.
Vor diesem hängenden Teppich stand ein weiß lackiertes Regal. Auf dem Regal lagen etwa zehn Einkilodosen mit schwarzem Kaviar, Malossol, vom Stör im Schwarzen Meer.
Wenn schon, dann wollen sie luxuriös und edel zugrunde gehen, dachte er verächtlich.
Die Decke war weiß gestrichener Beton. Daran gedübelt kleine Fluter mit einem angenehmen, nicht aufdringlichen Licht.
Er befragte sein Gedächtnis, die nächste lebenswichtige Aufgabe. Es hatte keine Lücken, er erinnerte sich an alles: An den alten Mann, der plötzlich eine Glock in der Hand hielt, an die Kiste mit dem Wein namens MAROC , an die Schalttafel, die man zurückstoßen konnte, um in den unterirdischen Bereich zwischen dem Haus und der Straße zu kommen.
Was mochte der junge Taxifahrer tun? Wartete er noch?
Was, zum Teufel, habe ich übersehen? Ich habe den Atem des Alten nicht gehört, nicht sein leises Summen, ich habe überhaupt nichts Verdächtiges gehört, bis Quelle Sechs plötzlich hinter mir stand. Ich habe nichts gehört, keinen Atem, keine Schritte, das ist unfassbar. Aber sofort milderte er das harte Urteil ab: Sie bewegen sich auf extrem leisen Sohlen, und sie bestimmen die Szene.
Ja, und die Stimme des Mannes hinter ihm. Der Mann, der sich Quelle Sechs nannte und es mit Sicherheit auch war. Und der ihn niedergeschlagen hatte, höchstwahrscheinlich. Ein Mann, der einer Frau beide Arme auskugelte, um sie dann sterben zu lassen, wusste todsicher den richtigen Schlag zu setzen, das war das kleine Einmaleins. Und er war der Folterer aller Gefangenen, die die USA im Umfeld des Terrors machten. Er war der Mann, der den Hilflosen Füße und Arme fesselte, um sie dann in einen Pool zu werfen und sich selbst zu überlassen.
Er sagte laut: »Hallo!«
Der Alte tauchte von hinten auf. »Nun, mein Freund, alles klar?« Die dreckige Kleidung war verschwunden und eingetauscht gegen weiße Baumwolle.
»Ich muss pissen«, sagte Müller.
»Oh, oh, da weiß ich aber nicht, ob das geht.«
»Dann pisse ich hier«, sagte Müller und versuchte aufzustehen.
»He, Junge«, sagte der Alte. »Nicht so eilig. Warte mal.«
Müller stand, und er schwankte nicht. Sein Kreislauf schien stabil zu sein.
»Na, dann komm mal mit«, murmelte der Alte und fasste ihn am linken Arm.
»Gehen möchte ich allein.« Müller streifte die Hand des Alten wie ein Insekt ab. Dann sah er auf sein Handgelenk. Seine Uhr war nicht mehr da.
»Geh vor mir her«, sagte der Alte. »So, da rüber auf die andere Seite, und jetzt rechts die letzte Tür. Pissen kannst du ja wohl allein. Und denk dran: Die Waffe habe ich. Ein Fenster gibt es nicht, und eine Telefonzelle ist das auch nicht.« Er kicherte, wahrscheinlich fand er seine Bemerkung witzig.
Es war alles erschreckend normal und öde: ein Pissoir, eine Toilette, eine Duschwanne hinter Glastüren, ein kleines Waschbecken
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