Die große Flut
kam solch einer zu uns in die Oase.« Sie errötete und wich seinem prüfenden Blick aus.
Aariel fragte: »Was geschieht gegen seine Verbrennungen? Hat er Fieber?«
»Ja. Higgaion spritzt ihn mit kühlendem Wasser an. Und sie wollen einen Seraph um Hilfe bitten.«
»Adnarel?«
»Ja, den Skarabäus.«
»Gut.«
»Dieser junge Riese ist nicht einer der euren, und er ist nicht einer der Nephilim. Deren Haut bleicht in der Sonne und welkt – wie das Feuer in den Wintermonden, wenn es zu weißer Asche niederbrennt.«
Die lohfarbenen Schwingen bebten, die goldenen Flügelspitzen schimmerten im Licht der Sterne. »Da seine Haut verbrennt, ist er keiner der Nephilim.«
»Und keiner der euren.«
»Hat er Flügel?«
»Nein. Darin gleicht er uns Menschen. Und trotz seiner Größe dürfte er noch sehr jung sein.«
»Hast du ihm in die Augen geschaut?«
Sie sah nicht, wie er ihr schalkhaft zublinzelte.
»Seine Augen sind grau, Aariel. Und gut. Und beständig. Sie… sie strahlen nicht wie die euren. Von ihnen geht kein inneres Licht aus. Sie gleichen eher den unseren.«
Aariel faßte sie sanft an der Schulter. »Geh nach Hause, Kind. Fürchte dich nicht vor dem Weg durch die Oase. Ich sehe zu, daß dir kein Leid geschieht.«
»Du und Eblis. Ich danke euch.« Wie ein Kind bot sie ihm den Mund zum Kuß. Aariel neigte sich ihr zu, und seine Lippen streiften die ihren. »Bald bist du kein Kind mehr.«
»Ich weiß.«
Wieder küßte er sie, ganz leicht, und im nächsten Augenblick enteilte ein mächtiger Löwe in die Wüste.
Yalith wählte den sandigen Pfad, der durch das Gerstenfeld führte und in die gepflasterte Straße mündete. Die Straße verlief quer durch die Ansiedlung, legte eine Schneise zwischen die niedrigen Lehmhütten. Der Lehm war weißgebrannt von der Sonne, die Mauern waren klobig, damit sie den häufigen Erdbeben standhielten. Und zur Straße hin die offenen Gewölbe: hier befanden sich die Läden für das Brot, für das Öl der Lampen, für Fleisch, für Pfeile und Bogen, für Speere aus Gelbholz. Und dazwischen die Zugänge zu den Wohnstätten, viele verhängt mit bunten Perlenschnüren, die in der nächtlichen Brise aneinanderklirrten.
Aus einem der Häuser kam ein Nephil, im Arm eine junge Frau, die bewundernd zu ihm aufblickte, sich an ihn schmiegte, ihre Brüste an seinen weißen Leib drängte. Das schwarze, glänzende Haar fiel ihr über die Hüften, die Augen strahlten wie Lapislazuli.
Yalith blieb stehen. Das war Mahlah, ihre Schwester, mit der sie das Frauenzelt teilte. Die beiden älteren Schwestern waren bereits vermählt und lebten mit ihren Gatten in der Oase. In letzter Zeit hatte sich Mahlah oft aus dem Zelt gestohlen. Nun wußte Yalith, wo sie gewesen war.
Mahlah lächelte ihr zu. Auch der Nephil lächelte zum Gruß. Erst dachte Yalith, es sei Eblis, und sie fühlte sich betrogen. Als er aber aus dem Schatten trat, sah sie, daß seine Flügel größer und lavendelfarben waren. Die Farbe seines Haares ließ sich nicht bestimmen, doch war es heller als das von Eblis und glänzte im Licht. Sein langer, schlanker Hals erinnerte an eine Schlange, seine Augen waren verhangen.
Wieder lächelte er gewinnend. »Mahlah bleibt bis morgen bei mir. Bestell das deiner Mutter.«
»Oh, sie wird es aber nicht gern hören«, platzte Yalith heraus. »Wir dürfen nicht über Nacht ausbleiben…«
Lachend fiel ihr Mahlah ins Wort. »Ugiel hat mich erwählt! Ich bin seine Braut.«
Yalith hielt den Atem an. »Weiß Mutter das schon?«
»Noch nicht. Du kannst es ihr ja verraten, kleine Schwester. «
»Solltest du ihr das nicht selbst sagen? Du und…«
»Ugiel.«
»Du und Ugiel, müßt ihr denn nicht erst…?«
Mahlahs Lachen klang glöckchenhell. »Die alten Bräuche gelten nicht länger, kleine Schwester. Heute nacht werde ich Ugiels Brüder kennenlernen.«
Der Nephil legte einen Flügel um Mahlah. »Ja, kleine Schwester, die Bräuche ändern sich. Geh und sage das deiner Mutter.«
Yalith gehorchte. Bald machten die niederen weißen Lehmhütten den Zelten Platz. Jedes stand inmitten des Grundstücks, das dem Siedler zugesprochen war. Erst kamen die bescheidenen Gehöfte der Händler, dann die Obstgärten und Felder, von denen sich manche über mehrere Morgen erstreckten. Auf ihrem Weg traf Yalith auf Schafe und Ziegen, auf grasende Kamele. An den Rebstöcken in den Weingärten reiften die Trauben.
Das große Zelt ihres Vaters war von mehreren kleinen Zelten umgeben. Yalith trat ein und
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