Die große Flut
der Gedanken. Der Regen ein silberner Vorhang. Dahinter…
»Alar-«, flüsterte Sandy.
»Aar-«, begann Dennys.
Sie flackerten auf. Und verlöschten. Wie das Licht zweier Kerzen.
Zwei Einhörner in einem Labor in einem alten amerikanischen Farmhaus boten einen seltsamen Anblick. Ebenso zwei Seraphim in voller Flügelpracht.
Die Zwillinge schauten sich um. Abgesehen von den Einhörnern und Seraphim war alles wie zuvor. Im Kamin brannte das Feuer. Auf dem Bunsenbrenner köchelte das Boef bourguignon und verbreitete verführerischen Duft. Der Computer mit der ungewöhnlichen Tastatur war eingeschaltet.
Adnarel saß in Mutters schäbigem Ohrensessel und ließ die goldenen Flügel über die Armlehnen hängen. Admael stand, die bläulich weißen Schwingen eng angelegt, gebückt vor dem Mikroskop und betrachtete das eingelegte Präparat.
»Glaubt ihr an Einhörner?« In Adnarels azurblauen Augen war ein amüsiertes Glitzern.
»Wie war die Reise?« fragte Admael. Auch er lächelte. Die beiden Seraphim wirkten sehr erleichtert.
Draußen schlug die Haustür zu.
Adnarel erhob sich in einem einzigen, graziösen Schwung aus dem Lehnstuhl. Admael wandte sich vom Mikroskop ab. Die Zwillinge erstarrten.
Die Stimme ihrer Mutter: »Dennys! Sandy! Wo seid ihr?«
»Du lieber Himmel!« rief Sandy. »Rasch! Wir müssen die Einhörner fortschaffen.«
»Sie lösen sich von selbst auf, sobald man nicht mehr an sie glaubt«, sagte Adnarel.
Dennys stöhnte. »Aber Meg und Charles Wallace – unsere Schwester und unser Bruder – glauben doch an Einhörner!«
»Und an Seraphim?« fragte Admael.
»Und wir dürfen nicht ins Labor. Schon gar nicht, wenn ein Experiment läuft.« Sandy war ziemlich nervös.
»Keine Angst«, sagte Adnarel. »Ihr seid doch heil und ganz?«
»Bis uns Mutter hier findet.«
Und Dennys rief: »Noch dazu als braungebrannte Mohren!«
»Im Vergleich zu so manchem anderen Problem ist das…« begann Admael.
Wieder die Stimme der Mutter: »Sandy? Dennys?«
»Kein Abschied!« befahl Adnarel. Er und Admael legten den beiden die Hände aufs Haar. Das war keine Berührung, das war ein Sichbefreien – so mußten sich die Seraphim aus ihrer Tiergestalt lösen… Und Sandy und Dennys starrten einander an. Ihre Gesichter waren winterblaß, ihre Haare nicht mehr von der Sonne gebleicht. Nur noch ihre bloßen Füße erinnerten an…
»Viele Wasser…« Adnarel stand neben einem der beiden Einhörner, umschloß mit langgliedrigen Fingern das Horn. Das Licht floß in seine Hand, in seinen Körper, in die Flügel, bis der Seraph als strahlende Lichtgestalt von Glanz umschimmert war.
»Können die Liebe nicht auslöschen…« schien Admael zu sagen, auch er in silberne Helle gehüllt.
Ein großes, die Augen blendendes Aufflammen von Licht.
Verdämmern.
Die Einhörner und die Seraphim waren verschwunden.
Frau Murry öffnete die Tür zum Labor. Hinter ihr standen Meg und Charles Wallace. »Da seid ihr ja! Was habt ihr hier zu suchen? Habt ihr denn den Zettel nicht gesehen?« fragte sie verärgert.
»Da war es schon zu spät«, sagte Sandy.
»Wir wollten nur die Kakaodose holen«, erklärte Dennys wie zur Entschuldigung.
»Sie liegt auf dem Fußboden«, sagte Meg. »Auf dem Flur. Ein Glück, daß wir nicht darüber gestolpert sind.«
»Wir wollten eben Kakao machen«, sagte Sandy. »Wollt ihr auch eine Tasse?«
»Bitte, gern«, sagte Frau Murry. »Es ist bitterkalt draußen. Aber ich beschwöre euch, das Labor in Zukunft nicht ohne meine ausdrückliche Erlaubnis zu betreten. Hoffentlich habt ihr nichts durcheinander gebracht.«
Sandy sagte vorsichtig: »Kommt darauf an. Jedenfalls nichts, was die Ordnung gestört hätte. Nicht wahr, Dennys?«
»Unter den gegebenen Umständen…« sagte der.
»Warum habt ihr keine Schuhe an?« fragte Charles Wallace.
Dennys räusperte sich. Sagte: »Ich mache jetzt den Kakao.«
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