Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Piepsen ertönt, und das Licht an der Tür leuchtet zuerst rot, dann orange und schließlich grün, ehe sie mit einem Zischen zur Seite gleitet. Der dicke Mann, der normalerweise draußen auf dem Plastikstuhl sitzt, steht jetzt in seinem zerknitterten purpurroten Anzug vor mir. Die Schlüsselkarte für meine Tür baumelt an einem Lederbändchen an seinem Handgelenk.
»Beeilung, Jaynes«, brummt er und kratzt sich das behaarte Kinn. »Ich hab schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.«
Das ist ja auch kein Wunder, denke ich, wenn man stundenlang auf seinem Hintern hockt und vor sich hin pennt. Das ist einer der Vorteile, wenn man nicht sprechen kann – man kriegt nie Ärger wegen einer frechen Bemerkung. Ich gehe hinaus und warte.
Von beiden Seiten des Gangs ertönt das Piepsen und eine Tür nach der anderen gleitet zur Seite. Nacheinander kommen die anderen Bewohner von Korridor 7 heraus, Jungs und Mädchen in meinem Alter, alle tragen Trainingshosen und Turnschuhe, so wie ich, und alle haben ungekämmte Haare und ausdruckslose Gesichter. Wir sehen einander an und dann deutet der Aufseher schweigend zum anderen Ende des Gangs.
Als wir an ihm vorbeigehen, hinein in den schon auf uns wartenden Lift, spüre ich, wie sich sein Blick in meinen Rücken bohrt.
Auf dem Hof herrscht ein solcher Lärm, dass mein Kopf dröhnt. Am lautesten geht es in der Warteschlange vor der Theke zu, wo sich auf dem blank polierten Tresen die Töpfe reihen. Metalltöpfe, gefüllt mit einer pinkfarbenen Pampe, die von Frauen mit grauen Haaren und noch graueren Gesichtern ausgeteilt wird. Und alle tragen purpurrote Kittel mit einem großen F vorne drauf.
F für Facto. Weltgrößter Lebensmittelkonzern. Besser gesagt, der einzige Lebensmittelkonzern, seit die Rote Pest alle Tiere dahingerafft hat. Deshalb haben sie Formula entwickelt – damit die Menschen auch weiterhin etwas zu essen haben. Und seitdem hat Facto einfach überall die Finger drin. Anfangs hatte die Regierung die Firma beauftragt, etwas gegen die Rote Pest zu unternehmen, und am Ende hatte die Firma die Regierung übernommen. Das ganze Land ist jetzt unter ihrer Kontrolle, von den Krankenhäusern bis zu den Schulen. Diese hier eingeschlossen. Wieso eine Firma, die professionell Lebensmittel herstellt und infizierte Tiere vernichtet, dazu geeignet ist, Schulen zu verwalten, ist mir ein Rätsel. Doch das Erste, was man lernt, wenn man auf eine Facto-Schule geht, ist: Facto duldet keinen Widerspruch.
»Was für eine Geschmacksrichtung gibt es heute?«, ruft Winkewinke-Jay, der es irgendwie geschafft hat, ganz vorne in der Reihe zu stehen. Dabei fuchtelt er mit seiner Plastikschüssel herum. Er steht immer ganz vorne in der Warteschlange und winkt. Daher der Spitzname. Wie er wirklich heißt, weiß ich gar nicht.
Hinter ihm steht die Breite Brenda, ein dickes Mädchen mit Zöpfen, das in einem extra verstärkten Bett schläft. Sie ist hier, weil sie so viel futtert, dass sie ihre Ma und ihren Pa sogar um Haus und Hof gebracht hat. Irgendwann war sie so dick, dass ihre Eltern sie nicht länger versorgen konnten. Dann ist da noch der blasse Junge mit den dunklen Augenringen – Tony, der Klepto. Er ist bekannt dafür, dass er Lebensmitteldosen mitgehen lässt und überhaupt alles, was ihm in die Finger kommt. Er würde sogar seine eigene Großmutter beklauen, wenn sie noch lebte. Momentan ist er damit beschäftigt, heimlich Ohrstöpsel aus der Tasche von Zündel-Stine zu stibitzen. Zündel-Stine ist hier, weil sie ständig etwas in Brand gesteckt hat, unter anderem auch einen Mann, der auf einer Parkbank schlief. Der kleine Knirps mit den stacheligen Haaren und dem teuflischen Grinsen, mit dem sie gerade spricht, heißt Maze und hat eine Aufmerksamkeitsstörung. Die Art von Störung, die dazu führt, dass man seine eigene Mutter mit einem Messer bedroht und durch die Küche scheucht.
Und ganz am Schluss, ganz am Ende der Reihe, da stehe ich.
Ich kenne ihre Namen. Ich lausche ihren Gesprächen. Ich weiß, warum sie hier sind.
Nur warum ich hier bin, das weiß ich nicht.
Kapitel 2
»Hühnchen mit Pommes«, verkündet die graue Frau hinter dem Tresen, die aussieht wie ein Schrankkoffer auf zwei Beinen. Oder ein Koffer mit mächtig behaarten Armen. »Heute gibt es Hühnchen-mit-Pommes-Geschmack.« Sie heißt Rosalie, was sich leider nicht auf Arme reimt, deshalb haben die anderen ein Lied auf ihre Knie gedichtet, obwohl die gar nicht behaart sind. Was Rosalie oder die anderen
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