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Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Titel: Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Piers Torday
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spät …
    Denn er ist schon mitten im Sprung. Auch ich mache einen Satz, hole mit der Geweihspitze aus und werfe mich von hinten auf Skuldiss. Er taumelt und lockert seinen Griff um Polly, die sich blitzschnell von ihm losreißt.
    Vom Aufprall überrascht stolpert Skuldiss und stürzt, aber noch im Fallen gibt er einen Schuss ab, und wie von einer unsichtbaren Faust getroffen wird der Wolf zu Boden geschleudert.
    Rotes Feuer brennt in meinen Augen, aber es ist kein tödlicher Virus, sondern blanker Zorn.
    Ehe Captain Skuldiss sich wieder aufrappeln kann, werfe ich mich auf ihn und will ihn mit der Geweihspitze erstechen. Zum ersten Mal erfahre ich, wie abgrundtief man einen Menschen hassen kann.
    Skuldiss krallt seine Finger in mein Handgelenk und zieht mich mit eisernem Griff an sich. Auf seinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. Der Regen tropft in seine Augen, ich versuche gerade, ihn zu erstechen – und er lächelt .
    Polly läuft zum kleinen Wolf, der die Beine von sich streckt. Aus einer klaffenden Wunde in seiner Flanke sickert dunkle Flüssigkeit, die sich auf dem Asphalt zu einer Lache sammelt.
    »Was hast du vor?«, fragt sie. Ihre Stimme ist so leise, dass sie im Plitschplatsch des Regens beinahe untergeht. Sie spricht nicht mit mir, sondern in sich hinein. Sie hat den Kopf des kleinen Wolfs in ihre Hände gebettet und sieht ihn an. Er hustet und ein Zittern geht durch seinen Körper.
    »Du lässt es nicht zu, dass er alle Tiere tötet, oder?«
    Ich schüttle den Kopf. Ich wünschte, ich könnte ihr alles erklären. Ich wünschte, meine Gedanken würden sich in meinen Augen spiegeln oder mein Gesicht ließe sich lesen wie ein Buch.
    Skuldiss’ Finger graben sich tiefer in mein Handgelenk, er will mich dazu bringen, die Geweihspitze fallen zu lassen, aber sein starrer Blick ist auf etwas hinter mir gerichtet.
    Ich wende den Kopf und sehe die Keuler in ihren Gummianzügen und Stiefeln auf uns zukommen.
    »Es ist vorbei, Kinders«, sagt Skuldiss höhnisch. »Warum sich noch die Hände schmutzig machen für diese dreckigen Tierchens? Entweder eure verseuchten Biester oder die Menschen in dieser Stadt. Ihr müsst euch entscheiden. Wer soll weiterleben?«
    Ich sehe Polly an und den kleinen Wolf, dann die angrenzenden Häuser, die für mich immer dazugehört haben, wenn ich an zu Hause dachte, und die plötzlich so abweisend und still wirken. Ich drücke die Geweihspitze tief in Skuldiss’ Haut, ein weißer Fleck auf seiner weißen Kehle, das Blut weicht zurück, ich drücke immer tiefer, bis –
    »Hast du schon mal einen Menschen umgebracht, Kindchens?«, stößt Skuldiss gepresst hervor. »Ich schon. Und beim ersten Mal ist es immer am schwersten.«
    Seine Augen sind ruhig und unergründlich wie zwei dunkle Fischteiche.
    Meine Hand beginnt zu zittern. Mein Herz hämmert schmerzhaft gegen meine Brust. Ich denke an Sidney. An den Hirsch, der einsam vor den Zäunen der Stadt liegt, an den kleinen Wolf, der verstummt ist und nicht den leisesten Ton mehr von sich gibt, während Polly ihm behutsam über den Kopf streicht. An den alten Hasen, an all die toten und verwundeten Tiere, die ringsum ausgestreckt liegen.
    Aber ich kann nicht. Ich bringe es nicht fertig.
    Wenn ich wüsste, dass sich alles zum Guten wendet, indem ich Captain Skuldiss töte …
    Wenn ich die Tiere damit retten könnte …
    Dann würde ich es tun, ja wirklich, das würde ich …
    Aber tief in meinem Innersten weiß ich, dass es nicht so ist.
    Ein schiefes Lächeln huscht über sein blutleeres Gesicht, das sich weiß vom dunklen Asphalt abhebt.
    »Du hast nicht den Mumm dazu, Kindchens, stimmt’s? Wusste ich’s doch.«
    Polly blickt mich stumm an. Das Letzte Wild schweigt.
    In mir tut sich ein Loch auf, und ich habe das Gefühl, kopfüber ins Bodenlose zu stürzen. Ich falle und falle – und mir wird klar, dass der Hirsch recht hatte.
    Ein großer Hirsch sieht seinem Schicksal immer ins Auge .
    Meine Schultern sacken nach unten und mein Griff lockert sich. Skuldiss reißt die Geweihspitze aus meiner kraftlosen Hand und schleudert sie gegen die Hauswand, wo sie abprallt und klappernd zu Boden fällt.
    »Nein, nicht!«, kreischt Polly.
    Zu spät.
    Die Keuler stürzen sich auf mich, drehen mir die Arme auf den Rücken und pressen mein Gesicht auf den Asphalt.
    Entsetzt starrt Polly mich an, als wäre jetzt sie diejenige, die ihre Stimme verloren hat.
    Captain Skuldiss steht auf, klopft sich Schmutz und Schlamm vom Jackett und zupft seine

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