Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
ist der Wind regennass.
Als ich die ersten Regentropfen auf meinem Handrücken spüre, wandern unsere Blicke nach oben zu den dunklen Wolken.
Während wir zwischen Reihen geparkter Autos entlanglaufen, werden die Tropfen größer, kälter und nasser. Sie zerplatzen auf den getönten Windschutzscheiben und spritzen über blank polierte Motorhauben. Ich gehe schneller, wir alle verfallen in einen hastigen Laufschritt. Polly zieht sich ihr T-Shirt wie eine Kapuze über den Kopf und versucht, mit uns Schritt zu halten. An einer blitzblanken Bordsteinkante zweigen wir ab und biegen in eine Stichstraße.
Meine Straße. Meine kleine Sackgasse, wie Ma sie immer nannte.
Ich weiß, eigentlich sollte ich auf die anderen warten – stattdessen spurte ich los.
»Kester!«, ruft Polly. »Wo willst du hin? Warte!«
Aber ihre Stimme dringt kaum zu mir durch. Ich höre nur das Blut in meinen Ohren pochen und den Regen auf den Asphalt klatschen.
Im Laufen blicke ich flüchtig auf die verschwommenen Namen der Briefkästen am Straßenrand. Ich schlittere über das glitschige Pflaster, auf dem sich inzwischen das Wasser sammelt.
Und dann erreiche ich das Ende der Straße.
Ich stehe vor dem Tor eines flachen weißen Einfamilienhauses. Der Regen rinnt in Strömen über das gläserne Dach, das sich auf einer Seite des Hauses bis zum Boden zieht.
Alles sieht aus wie damals vor sechs Jahren. Bis auf die grellen Scheinwerfer, die der Auffahrt das Aussehen einer Landebahn geben, brennt nirgendwo Licht. Plötzlich fühle ich mich wieder wie ein kleines Kind. Und nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob Pa sich wirklich freuen wird, mich zu sehen.
»Soll ich mitkommen?« Polly ist einen Schritt hinter mir zurückgeblieben. Sie muss fast schreien, um den Wind und den Regen zu übertönen.
Ich schüttle den Kopf und spritze dabei Wassertröpfchen in alle Richtungen. Das hier muss ich alleine tun.
Ich wische das Wasser von einem kleinen Metallkästchen neben dem Tor und tippe einen Code ein.
Nichts rührt sich.
Ich versuche es noch einmal, wische noch mehr Wasser weg und drücke noch fester auf die Tasten – und zu meiner großen Erleichterung gleitet das Tor geräuschvoll zur Seite. Er hat den Zugangscode also nicht geändert. Ich weiß, das ist nur eine Kleinigkeit – aber sie gibt mir Mut, den langen Weg über die Auffahrt im fahlen Licht der Scheinwerfer entlangzugehen.
Aber der Knoten in meinem Magen wird immer größer und wärmer.
Ich ertappe mich dabei, wie ich meine Hose hochziehe und meine regennassen Haare glatt streiche, wie ich mir den schlimmsten Dreck aus dem Gesicht wische und den durchweichten Schal zurechtrücke. Endlich bin ich wieder hier, nach sechs endlos langen Jahren stehe ich im Regen vor unserer Haustür – mit einem Mädchen und mehr als hundert Tieren im Schlepptau.
Mit angehaltenem Atem zähle ich bis zehn, dann drücke ich die Klingel.
Ich höre das dumpfe Läuten im Inneren des Hauses, aber hinter der Tür rührt sich nichts.
Ich klingle ein zweites Mal.
Plötzlich geht ein Licht an. Die Lampe am Ende der Diele.
Ich höre seine Schritte auf dem Gang.
Ein weiteres Licht, ein Schatten hinter der Milchglasscheibe, und ich habe nur noch einen Gedanken – mach die verdammte Tür endlich auf …
Ein Schlüsselbund klirrt, das Schloss klappert, eine Kette wird zurückgeschoben, die Tür öffnet sich und –
»Hallo, Kinders«, sagt Captain Skuldiss. »Das ist aber eine nette Überraschung. Wie geht’s denn so?«
Und um mich herum wird alles schwarz.
Kapitel 37
Ich bin zurück in Mentorium, in meiner Zelle, wieder ganz am Anfang. Die Fensterscheibe ist in tausend Stücke zersprungen, Wind und Regen peitschen mir ins Gesicht. Mit der Hand fahre ich über meine Arme, taste nach meiner Uhr. Ich kann nichts sehen, alles ist in tintenschwarze Dunkelheit getaucht – aber ich lebe noch.
Das sagt mir der brennende Schmerz, den ich fühle. Er pocht hinter meiner Stirn und lähmt meine Glieder. Ich kenne diesen Schmerz – er stammt von einer Krücke aus Metall. Ich stöhne und versuche, mich zu bewegen, aber mein Körper protestiert in einem lautlosen Aufschrei.
Dann sind wieder die Tauben da – sie waren ja schon einmal in diesem Zimmer –, und sie zupfen an meinen Haaren, picken an meinen Kleidern, meinen Ohren, meiner Nase.
* Wach auf! Wach auf, Kester! Alleine schaffen wir das nicht! Du musst uns helfen! *
Ich schlage die Augen auf – das schaffe ich gerade so.
Im ersten Moment sehe ich nur
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