Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Krawatte zurecht – ohne seine Krücken wirkt er beinahe nackt, wie er da schwankend auf der Straße steht und die Arme ausbreitet, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Kinders, Kinders, wann kapiert ihr es endlich? Mischt euch nicht in Dinge ein, von denen ihr nichts versteht.«
Er lacht in sich hinein und kippt dann mit dem Oberkörper nach vorn. Im ersten Moment denke ich, er hat die Balance verloren. Doch dann sehe ich, dass er seine Hose nach oben zerrt und ein vernarbtes und verstümmeltes Bein zum Vorschein kommt und noch etwas anderes – etwas, das er aus einem Gummiband um seine Wade zieht. Stahl blitzt auf, der nun in seiner Hand herumgewirbelt wird. Eine kurze, flache Klinge. Die man auf einem Gewehr befestigen kann – oder einer Krücke.
Ein Bajonett.
Die Tiere weichen voller Furcht zurück, aber ich hebe den Kopf, blicke Skuldiss in die Augen und lächle.
»Ich kann mich nicht erinnern, etwas Lustiges gesagt zu haben. Würdest du so freundlich sein und mir erklären, was du so witzig findest, Jungenskind?«, fragt er.
Ich lächle, weil ich ein vertrautes Geräusch höre.
Sein Blick bohrt sich in meinen, ein triumphierendes Grinsen spielt um seinen Mund. Er ist sich sicher, dass das Spiel schon gelaufen ist.
Pech nur, dass ich nicht nach seinen Spielregeln spiele – denn das Geräusch, das mit jeder Sekunde lauter wird, verleiht mir den Mut, ihm entgegenzutreten und seinen Blick zu erwidern. Mächtige Hufe donnern die Straße entlang, und das kann nur eines bedeuten.
Auch Polly hört das Geräusch, unsere Blicke treffen sich und auf ihrem Gesicht erscheint ein zaghaftes Lächeln.
Die Tiere spitzen die Ohren, sie hören es auch und jubeln. Skuldiss fährt herum, die Keuler springen zur Seite, aber zu spät …
Ein imposantes Geweih rammt die Männer und wirbelt sie durch die Luft wie Stoffpuppen. Hufe schlittern über den Asphalt und schnaubend kommt der Hirsch direkt vor mir zum Stehen.
Seine Augen glühen feuerrot. Seine Flanken tropfen vor Schweiß, sein Atem geht schwer und sein Geweih ist lädiert und zerkratzt – aber er ist hier. Er ist für uns zurückgekommen.
Er ist wieder da.
* Der Hirsch *, stößt er zwischen zwei keuchenden Atemzügen hervor, * hat seine Kräfte für den letzten Kampf aufgespart .*
Skuldiss ist wie versteinert, sein flackernder Blick schweift zu den bewusstlos am Boden liegenden Keulern, und auch noch die letzte Spur Farbe weicht aus seinem Gesicht.
Der Hirsch blickt zu dem kleinen Wolf, in dessen Augen noch das letzte Fünkchen Leben glimmt. * Hat das der Mann mit den Stöcken getan? *
Ich nicke nur.
Langsam schreitet der Hirsch auf Captain Skuldiss zu, der in die Hocke geht und sein schiefes Lächeln grinst.
»Na komm schon, du herrliches Biest«, säuselt er. »Mit dir werden wir auch noch fertig.«
Zum ersten Mal richtet der Große Hirsch, der Anführer des Letzten Wilds, das Wort an Captain Skuldiss und spricht zu ihm. Worte, die er niemals verstehen wird.
* Mensch, ich trete vor dich im Namen all derer, die du getötet hast. Deine Zeit ist um .*
Der Hirsch wirft den Kopf zurück. Sein markerschütterndes Röhren lässt die Fenster der sorgsam gepflegten Häuser erzittern.
Und ich mache keine Anstalten, ihn aufzuhalten, als er sich vom Boden abstößt und mit gesenktem Geweih nach vorne schnellt – direkt auf den Mann zu, der sein Letztes Wild töten wollte.
Kapitel 38
Von einem Augenblick auf den anderen steht Skuldiss nicht mehr da, spricht nicht mehr, tötet nicht mehr – der Hirsch ist neben ihm zu Boden gesackt, blutverschmiert, aber lebendig. Von seiner Schnauze steigen kleine Dampfwölkchen auf. Die Keuler liegen immer noch regungslos da.
Ich blicke zum Himmel.
Es hat aufgehört zu regnen.
Ich knie mich neben den Hirsch. * Als es zu regnen anfing, dachte ich, das wäre der Sturm der Stürme. Ich dachte, du – *
Er schüttelt den Kopf. Blut tropft von seinem Geweih.
* Nein. Noch ist es nicht so weit. Der Sturm der Stürme ist anders als alles, was wir kennen – du wirst es merken, wenn er aufzieht. Aber hier sind heute Tiere ums Leben gekommen. Und das gilt wohl auch für den Ring des Waldes. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit! *
Aber wofür? Was kann ich jetzt noch tun?
Der Himmel beginnt sich aufzuklären, hinter den Antennen über den Dächern der Straße färbt er sich hellgrau. Jetzt, wo der Sturm sich gelegt hat, riecht die Luft angenehm frisch. Aus der Ferne dringen die gedämpften Geräusche der Stadt – Premia
Weitere Kostenlose Bücher