Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Nebel – dann sackt der Hase mit einem letzten Seufzer, der klingt, als hätte er einfach nur ausgeatmet, auf den Boden und bleibt liegen. Zwischen seinen Augen breitet sich ein dunkler Punkt aus, seine langen Ohren liegen schlaff auf dem Asphalt. Das erste der Tiere, das im Wald meinem Ruf gefolgt war. Es hatte gedacht, ich würde es retten.
Von Polly kommt ein erstickter Schrei, der klingt, als wäre es ihr letzter.
»Eines weniger – bleiben nur noch neunundneunzig«, höre ich Skuldiss ungerührt sagen.
Panik erfasst das Wild, die Hasen hoppeln in alle Richtungen, die Marder zwängen sich unter den Toren durch, ein Fichtenmarder klettert auf die Mauer …
Ich will aufspringen, aber der Schmerz überrollt meinen Körper und wirft mich erneut zu Boden.
Skuldiss hebt seine Krücke, zielt mit ruhiger Hand – so lässig, als stünde er in einer Schießbude am Jahrmarkt – und wieder knallt es.
Mein Letztes Wild wird vor meinen Augen ausradiert.
Ich kann nicht mit ihnen sprechen, ich höre nichts als das Knallen der Schüsse und Pollys verzweifeltes Schluchzen.
Ich sacke in mich zusammen. Gefangen in einem Albtraum, aus dem ich nie wieder erwachen werde.
An meinem Gesicht spüre ich nasse Federn und spitze Klauen.
* Kester! Du musst sie retten. Komm! Du musst! *
Es hat keinen Sinn. Es ist vorbei. Pa ist nicht da. Ich habe mein Bestes gegeben.
* Kester, du hast es versprochen. Du hast dem Hirsch dein Wort gegeben. Du musst sie retten .*
Nein. Nein. Ich bin nur ein Junge. Er ist ein Wahnsinniger. Ich habe keine Waffe, ich kann nicht einmal laufen – ich rolle mich auf die andere Seite, wende mich ab. Aus den Augenwinkeln sehe ich ein Knäuel aus weißen Federn.
* Das hier habe ich vom Hirsch. Ich habe es für dich gerettet. Versprochen .*
Zum ersten Mal scheinen die Worte der Weißen Taube tatsächlich einen Sinn zu ergeben. Die anderen Tauben stimmen ihr zu.
* Ja, das hier stammt vom Hirsch. Wir haben es mitgenommen. Für dich .*
Ich spüre, wie sie mir etwas in die verkrampfte Hand schiebt. Etwas Krummes und Kantiges. Etwas, das Weiße Taube im Schnabel gehalten hat. Es ist scharf wie ein Dolch. Es ist die abgebrochene Spitze aus dem Geweih des Hirschs. Die Tauben haben sie wahrscheinlich am Boden gefunden – und sie bis jetzt mit sich getragen.
Noch mehr Schüsse hallen durch die Straße.
Ich muss an den Hirsch denken, der jetzt alleine im Niemandsland vor der Stadt liegt. Seine Worte hallen in meinem Kopf. Ich blicke in die seltsamen orangefarbenen Augen der Weißen Taube, die aufgeregt an meiner Hand pickt.
Langsam schließe ich die Finger um die Geweihspitze und richte mich schwer atmend auf.
* Beeil dich, Kester. Bitte! Du musst. Nimm sie. Benutze sie! *
Keuchend stemme ich mich hoch, auf allen vieren kauernd suche ich die Einfahrt ab, mein Blick gleitet vorbei an Polly und Skuldiss die Straße entlang.
* Kleiner Wolf! *, rufe ich, aber es ist kaum mehr als ein heiseres Krächzen.
Ich richte mich schwankend auf. Vornübergebeugt stehe ich da und schüttle benommen den Kopf, um einen klareren Blick zu bekommen.
* Kleiner Wolf! *, rufe ich wieder, diesmal lauter.
* Große Wildnis! * Im Tumult geht seine Stimme beinahe unter.
* Dein Vater sieht genauso aus wie der Mann von der Straße der Fische! *, ruft er. * Und er schießt mit seinem Stock auf uns! Das ist das schlechteste Heilmittel der Welt .*
* Das liegt daran, dass es tatsächlich der Mann von der Straße der Fische ist! *, rufe ich zurück.
* Dann werde ich ihm die Augen auskratzen und seine Kehle durchbeißen! *, knurrt Kleiner Wolf. * Ich kann meine Angst vor seinem Feuerstock überwinden! *
Ich bin immer noch zu weit weg.
* Nein, warte, kleiner Wolf! Ich weiß, dass du mutig bist. Du musst es nicht beweisen. Warte auf mein Kommando – *
Zu spät.
Kleiner Wolf springt mit einem großen Satz über die anderen Tiere, die ihre Rettung in der Flucht suchen. Wie ein dunkelgrauer Blitz schießt er über die Straße – direkt auf Skuldiss und Polly zu.
Jeder andere Mensch würde das Weite suchen, wenn ihm ein Wolf an die Gurgel springt – aber nicht Captain Skuldiss.
Mit einer lockeren Bewegung des Handgelenks hebt er seine Krücke, während sich Kleiner Wolf mit gefletschten Zähnen vom Boden abstößt …
Ich ignoriere das brennende Stechen in meiner Lunge und laufe los …
Über Skuldiss’ Schultern hinweg sehen Kleiner Wolf und ich uns an …
Ich weiß, dass er die Warnung in meinen Augen versteht, aber es ist zu
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