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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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von Dingen weiß?
     
    U. E.: Dass die größtmögliche Zahl unserer Mitmenschen die Vergangenheit kennt. Ja. Das ist die Grundlage unserer Kultur. Der Alte, der abends unter der Eiche sitzt und die Geschichten des Stammes erzählt, er ist es, der die Verbindung des Stammes zu seiner Geschichte knüpft und die Erfahrungen der Jahre weitergibt. Wir heute sind zweifellos versucht, wie die Amerikaner zu denken, was sich vor dreihundert Jahren zugetragen hat, zählt nicht mehr, hat für uns keinerlei Bedeutung mehr. George W. Bush, der die Bücher über die englischen Kriege in Afghanistan nicht gelesen hatte, konnte also nicht die geringsten Lehren aus den Erfahrungen der Engländer ziehen und hat seine Armee in den sicheren Tod geschickt. Hätte Hitler Napoleons Russlandfeldzug studiert, so hätte er nicht die Dummheit begangen, diesen noch einmal zu unternehmen. Er hätte gewusst, dass der Sommer nie lang genug ist, um vor dem Winter in Moskau zu sein.
     
    J.-C. C.: Wir haben von denen gesprochen, die Bücher verbieten möchten, und von denen, die aus schlichter Faulheit oder Ignoranz nicht lesen. Aber dann gibt es da noch die Theorie von der docta ignorantia , der »belehrten Unwissenheit« des Nikolaus von Kues. »Im Blatt eines Baumes wirst du mehr finden als in den Büchern«, schreibt der heiligeBernhard an den Abbé de Vauclair, Henri Murdach. »Die Bäume und Felsen werden dich das lehren, was du bei keinem Meister lernen kannst.« Allein durch die Tatsache, dass ein Buch ein artikulierter und gedruckter Text ist, kann es uns nichts lehren, und es ist sogar oft verdächtig, weil es uns die Eindrücke eines einzelnen Individuums vermittelt. Das wahre Wissen findet man in der Betrachtung der Natur. Ich weiß nicht, ob Sie den schönen Text von José Bergamin kennen, La décadence de l’analphabétisme . Er stellt folgende Frage: Was haben wir verloren, als wir lesen lernten? Welche Erkenntnisformen besaßen die Menschen der Vorgeschichte oder die Völker ohne Schrift, die uns unwiederbringlich verlorengegangen sind? Frage ohne Antwort, wie alle scharfsinnigen Fragen.
     
    U. E.: Mir scheint, die kann jeder für sich beantworten. Die großen Mystiker haben angesichts dieser Frage unterschiedliche Positionen bezogen. Thomas a Kempis zum Beispiel sagt in seiner Nachfolge Christi , er habe nie Frieden finden können, außer wenn er sich irgendwo abseits hinsetzte mit einem Buch. Im Gegensatz dazu widerfährt Jakob Böhme seine große erleuchtende Erfahrung, als ein Lichtstrahl auf ein Zinngefäß trifft, das vor ihm steht. In diesem Moment ist es ihm ganz gleich, ob er Bücher zur Hand hat oder nicht, weil er die Erleuchtung hat, die sein ganzes künftiges Werk bestimmen wird. Aber wir, die wir Büchermenschen sind, könnten mit einer von einem Sonnenstrahl getroffenen Schale nichts anfangen.
     
    J.-C. C.: Ich komme noch einmal auf unsere Bibliotheken zurück. Vielleicht haben Sie ja vergleichbare Erfahrungen gemacht. Sehr oft passiert es mir, dass ich einen Raum betrete,in dem ich Bücher habe, und sie einfach ansehe, ohne sie anzufassen. Das ist irritierend und im gleichen Moment beruhigend. Während meiner Zeit an der Fémis erfuhr ich, dass Jean-Luc Godard nach einer Möglichkeit suchte, in Paris arbeiten zu können, und wir erlaubten ihm, einen Raum zu okkupieren, mit der einzigen Auflage, ein paar Studenten zusehen zu lassen, wenn er seine Filme montierte. Er drehte also einen Film, die Dreharbeiten waren abgeschlossen, er verteilte die Filmbüchsen in verschiedenen Farben auf die Regale, sie enthielten verschiedene Sequenzen. Er blieb mehrere Tage da und betrachtete seine Filmbüchsen, ohne sie zu öffnen, bevor er mit dem Schnitt begann. Das war kein Spiel. Er war allein. Er sah die Büchsen an. Ich ging von Zeit zu Zeit hin und schaute nach ihm. Er war da, versuchte vielleicht sich zu erinnern oder suchte nach einem Ordnungsprinzip, einer Inspiration.
     
    U. E.: Diese Erfahrung können nicht nur diejenigen machen, die viele Bücher bei sich angesammelt haben, oder Filmspulen, wie in Ihrem Beispiel. Man kann dieselbe Erfahrung in einer öffentlichen Bibliothek machen und manchmal in einer großen Buchhandlung. Wie viele von uns haben sich nicht einfach vom Duft der Bücher genährt, die man auf einem Regal sah, aber die nicht unsere waren? Die Bücher betrachten, um Wissen daraus zu beziehen. All diese Bücher, die Sie nicht gelesen haben, verheißen Ihnen etwas. Was heutzutage optimistisch stimmt, ist,

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