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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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Dialekt nie der Fall war.
     
    J.-C. C.: Er ist also Dialekt geblieben.
     
    U. E.: Genau. Wenn Sie also eine kleine Stele besitzen mit nur einem einzigen Zeichen darauf, sagen wir einem Götternamen, handelt es sich nicht um ein Buch. Aber wenn Sie einen Obelisk haben, auf dem mehrere Zeichen die Geschichte Ägyptens erzählen, dann haben Sie etwas vor sich, was einem Buch ähnelt. Das ist derselbe Unterschied wie zwischen Text und Satz. Der Satz hört dort auf, wo der Punkt steht, während der Text den Horizont des ersten Punkts überschreitet, welcher den ersten Satz in diesem Text abschließt. »Ich bin nach Hause gegangen.« Der Satz ist zu Ende. »Ich bin nach Hause gegangen. Ich habe meine Mutter getroffen.« Und schon sind Sie auf der Textebene.
     
    J.-C. C.: Ich möchte gern einen Auszug aus Die Philosophie des Buches zitieren, das ist ein Essay von Paul Claudel, den er 1925 nach einem in Florenz gehaltenen Vortrag veröffentlichte. Ich schätze Claudel als Autor nicht sonderlich, aber er hat manchmal erstaunliche Gedankenblitze. Er beginnt mit einer transzendentalen Erklärung: »Wir wissen, dass die Welt wirklich ein Text ist, der voller Demut und Freude von seiner eigenen Abwesenheit zu uns spricht, aber auch von der ewigen Gegenwart eines anderen, nämlich seines Schöpfers.«
    Hier spricht natürlich der gläubige Christ. Etwas später heißt es: [Mir kam der Gedanke] »heute Abend mit Ihnen zu studieren, was Sie mir als die Physiologie des Buches zu bezeichnenerlauben wollen. […] Das Buch besteht aus Seiten, und die Seite setzt sich aus Worten zusammen. […] Das Wort […] ist nur ein schlecht beschwichtigtes Teilstück des Satzes, ein Abschnitt auf dem Wege zum Sinn hin, eine Spur der flüchtigen Vorstellung. […] Das chinesische Wort hingegen […] bleibt starr vor dem Auge des Betrachters. […] Der Schrift ist dies geheimnisvoll zu eigen, dass sie spricht. […] Das alte und das moderne Latein waren stets dazu geschaffen, um auf Stein eingeschrieben zu werden. […] Die ersten Bücher waren typographische Gebäude und so schön wie die Fassaden eines Palladio oder eines Borromini. […] Indessen beschleunigt sich auf den abschüssigen Bahnen der Jahrhunderte die Bewegung des Geistes, der Fluss der gedachten Materie schwillt an, die Zeilen drängen sich zusammen, die Schrift rundet sich ab und verkleinert sich. Bald schon greift die Druckerei nach dieser feuchten und schaudernden Fläche über der Seite, die dem winzigen Schnabel der Feder entronnen ist, klischiert sie […] Hier haben wir es nunmehr mit der menschlichen Schrift zu tun, die fortan den Launen und dem Versagen des Schreibrohrs entzogen ist, in gewisser Weise stilisiert, vereinfacht, wie ein mechanisches Organ […]. Der Vers ist eine Zeile, die anhält, nicht weil sie an einer materiellen Grenze angelangt ist und der Raum fehlte, sondern weil seine innere Ziffer vollendet und seine Kraft verzehrt ist. […] Jede Seite bietet sich dar wie die aufeinanderfolgenden Terrassen eines großen Gartens. Das Auge […] erfreut sich inmitten dieser großen Rasenflächen aufs köstlichste und mithilfe eines seitlichen Angriffs gewissermaßen durch ein Adjektiv […] und entlädt sich plötzlich im Neutralen mit der Heftigkeit einer granatfarbenen oder feuerfarbenen Note. […] Eine große Bibliothek erinnert mich stets an die Ablagerungen einer Kohlemine, angefülltmit Fossilien, Abdrücken und Mutmaßungen. […] Sie ist das Herbarium der Gefühle und Leidenschaften, das Einmachglas, in dem man die getrockneten Muster aller menschlichen Gemeinschaften aufbewahrt.«
     
    U. E.: Hier sehen Sie ganz deutlich, was den Unterschied zwischen Poesie und Rhetorik ausmacht. Die Poesie würde Ihnen erlauben, das Buch, die Bibliothek in vollkommen neuer Weise wiederzuentdecken. Wohingegen Claudel genau das sagt, was man ohnehin weiß! Dass der Vers nicht endet, wo die Seite zu Ende ist, weil er einem inneren Gesetz gehorcht und so weiter. Das ist also erhabene Rhetorik. Aber er fügt keine einzige neue Idee hinzu.
     
    J.-C. C.: Während Claudel seine Bibliothek wie die »Ablagerungen einer Kohlemine« betrachtet, vergleicht einer meiner Freunde seine Bücher mit einem warmen Pelz. Er fühlt sich wie gewärmt von seinen Büchern, geborgen in ihrer Mitte. Geschützt vor Irrtum, Ungewissheit und auch vor Kälte. Umgeben zu sein von sämtlichen Ideen der Welt, von sämtlichen Empfindungen, sämtlichen Erkenntnissen und sämtlichen Irrtümern, bietet ein

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