Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
der Polizei halten, zumindest die älteren. Etwas Entgegenkommen von der Leitung würde die Kooperationsbereitschaft sicher erhöhen.
Die Blicke der beiden Männer begegneten sich, Beckers aus grauen und Pirots aus dunkelblauen Augen. Jérôme sah, daß sie einander respektierten. Pirot war der, der den Blickkontakt zuerst unterbrach. Er lächelte schwach.
– Der menschliche Körper besteht aus verschiedenen Kohlenstoff-, Stickstoff- und Wasserstoffverbindungen, sagte er, wüßte gern, welchen Effekt das auf die Schmelze gehabt hätte? Das wäre ein Zusatz, den ich in meiner Doktorarbeit nicht behandelt habe. Ja, ich sorge dafür, daß der Vormann über Vandermeel und Leone informiert wird. Und dann heißt es Zusammenhalten.
Am Eisenbahnwaggon hatte die Polizei eigene Scheinwerfer montiert, die mit starkem weißem Licht auf die Ladung leuchteten. Jemand war an der Außenseite des Waggons hochgeklettert und guckte jetzt hinunter auf die Hand, ebenso, wie es vorher Jérôme getan hatte, aber jetzt mit besserer Beleuchtung. Er schrie auf.
– Etwas klemmt in der Daumenfalte, es sieht aus wie ein Stück Papier! Bringt eine Pinzette und einen Umschlag, es ist besser, wir kümmern uns darum, bevor wir das hier unten durcheinanderbringen.
Jérôme wurde neugierig und ging auf den Waggon zu, gefolgt von Becker und Pirot. Er kam dort an, als gerade ein Mann in einer Art Schutzanzug vom Eisenbahnwaggon heruntersprang und einen durchsichtigen Zellophanumschlag zu Martine Poirot hinüberreichte.
– Sieht aus wie Zeitungspapier mit Blutspritzern darauf, ein paar Wörter sind leserlich, aber der Teufel weiß, was da steht, es ist keine Sprache, die ich kenne.
Martine Poirot nahm den Umschlag, glättete ihn an der Handfläche und stellte sich unter den Scheinwerfer, so daß das starke Licht direkt auf das Papier fiel.
– Aber ich weiß es vielleicht, sagte sie langsam, seht hier, ein »a« mit zwei Punkten darüber, das gibt es in mehreren Sprachen, aber hier ist auch ein »a« mit einem runden Ring darüber, viel ungewöhnlicher. Aber ich habe es oft gesehen, mein Mann liest schwedische Zeitungen, und im Schwedischen gibt es diesen Buchstaben.
Sie drehte sich zu Pirot um und runzelte die Stirn.
– Sagten Sie nicht, daß das Erz aus Schweden gekommen ist? Das ist vielleicht ein Zufall. Aber es scheint tatsächlich so, als hätte der tote Mann in der Erzladung ein abgerissenes Stück Papier aus einer schwedischen Zeitung in der Hand.
KAPITEL 2
Mittwoch, 21. September 1994
Granåker
– Du mußt wissen, daß ich viele Männer gehabt habe, murmelte die Bischöfinwitwe. Sie sank zurück auf die Kissen, schloß die Augen und schlief wieder ein. Ihr Atem war schnell und leicht wie bei einem sehr kleinen Kind, und als Thomas Héger ihre Hand nahm, fühlte sie sich dünn und spröde an, als wären die Knochen hohl geworden, mit Haut, die sich fältelte wie ein etwas zu großer Wildlederhandschuh. Er drückte sie vorsichtig, und seine Großmutter schlug die Augen wieder auf.
– Aber Aron, bist du da, sagte sie erstaunt.
– Nein, Großmutter, ich bin Thomas, Evas Sohn, sagte er sanft. Er wußte, daß er seinem Großvater ähnlich war, aber Bischof Aron Lidelius war vor mehr als zwanzig Jahren gestorben und hatte seine Frau Greta zurückgelassen, eine recht lustige Witwe, die in den Jahren nach dem Tod des Gatten Englisch studiert und Kurse geleitet hatte und um die halbe Welt gereist war. Ihren neunzigsten Geburtstag hatte sie in Paris gefeiert. Aber jetzt war sie fünfundneunzig, und eine Lungenentzündung während des Winters hatte an ihren Kräften gezehrt. Sie wirkte substanzlos, dachte Thomas, im Begriff, sich von allem Irdischen zu verabschieden, eine schwach flackernde Kerze, die ganz einfach am Verbrennen war.
– Eva will Malerin werden, wußtest du das? sagte Greta Lidelius.
– Ja, Großmutter, sagte Thomas. Seine Mutter Eva Lideliuswar seit den sechziger Jahren eine international anerkannte Künstlerin, deren Gemälde in Museen in New York und Tokio ebenso wie in Europa hingen.
– À Paris on m’appelait Margot , murmelte die Bischöfin und sank mit einem verträumten Lächeln zurück auf die Kissen. In ihrer Jugend hatte Greta Lidelius, geborene Herou, an André Lhotes Kunstschule in Paris studiert. Aber nach der Verlobung mit Aron Lidelius, den sie kennengelernt hatte, als er Pastor in der schwedischen Kolonie in Paris war, während er gleichzeitig an der Sorbonne an seiner Dissertation in Theologie
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