Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Rechtsanwälte, wir haben die Gewerkschaft. Du hast ja selbst gesagt, daß jemand sagen könnte, daß es deine Schuld war. Ruf jetzt ihre Geschäftsstelle an, sie haben das Telefon weitergeschaltet, das weiß ich.
Sie mußten eine gute halbe Stunde in dem Schuppen warten, dreiunddreißig Minuten, die Jérôme als unendlich empfand. Über den Job hinaus hatten Guido und er nicht viel miteinander zu reden. Es lagen vierzig Jahre zwischen ihnen, und manchmal hatte Jérôme das Gefühl, daß sie von verschiedenen Planeten kamen. Wenn Guido von seiner Kindheit in irgendeinem gottverlassenen italienischen Provinznestwährend des Krieges erzählte, klang es, als erzähle er Erinnerungen aus der dritten Welt.
Nach siebenundzwanzig Minuten legte Jérôme die Decke weg und trat aus dem Schuppen, um etwas frische Luft zu schnappen. Er stellte sich mit dem Rücken zu den Eisenbahnwaggons, um nicht an das denken zu müssen, das da lag, und zündete eine seiner immer selteneren Zigaretten an, er dachte tatsächlich ernsthaft darüber nach, mit dem Rauchen aufzuhören.
Geradeaus vor ihm, aber weit hinten auf dem riesigen Werksgelände von Forvil war die flatternde blaue Flamme des Hochofenkranzes vor dem Abendhimmel zu sehen.
Er hatte die halbe Zigarette geraucht, als plötzlich alles auf einmal passierte. Drei Polizeiwagen kamen mit eingeschaltetem Blaulicht, aber ohne Sirenen langsam das Eisenbahngleis entlang angerollt, während gleichzeitig der Gewerkschaftsvorsitzende Jean-Claude Becker mit langen Schritten von rechts kam, als sei er durch das Südtor hereingekommen. Fünfzig Meter hinter den drei Polizeiwagen rollte fast lautlos ein schwarzer BMW heran.
Der BMW hielt zuerst an. Ein Mann im hellen Mantel und mit einem blauen Schutzhelm auf dem Kopf stieg an der Beifahrerseite aus. Jérôme erkannte ihn. Es war Michel Pirot, stellvertretender Geschäftssführer von Forvil und bekannt als derjenige in der Unternehmensleitung, der ausrückte, wenn unerwartete Probleme zu lösen waren. Er und Jean-Claude Becker erreichten im selben Moment die Reihe der Eisenbahnwaggons und schüttelten einander feierlich die Hand, während gleichzeitig aus den Polizeiwagen Leute auszusteigen begannen.
– Wartet, rief Pirot und ging auf sie zu, keiner darf sich hier auf dem Gelände ohne Schutzhelm bewegen, ich habe genug mit, daß es für alle reicht!
Pirots Chauffeur schleppte einen großen Pappkarton mit Besucherhelmen an, und Pirot ging zum Auto und nahm noch einen Karton heraus. Inzwischen schlenderte Jean-Claude Becker zu Jérôme, von dem bis jetzt niemand Notiz genommen hatte.
– Hallo, Jérôme, sagte er freundlich, das hier war nicht so lustig, ist mir klar. Wie geht es dir, das muß ein Schock für dich gewesen sein?
Er trug Jeans und eine abgewetzte braune Wildlederjacke. Sein Schutzhelm war voller Aufkleber, Gewerkschaftsabzeichen und hatte einen schmucken Kranz Schlümpfe um die Helmkante. Über seinem Namensschild thronte ein Aufkleber mit Papa Schlumpf, weißbärtig und rotbehost.
– Schon okay, sagte Jérôme schneidig, für den da drüben ist es schlimmer.
Er machte mit dem Kopf eine Geste Richtung Eisenbahnwaggon.
– Hast du eine Ahnung, wer das sein kann, sagte der Gewerkschaftsvorsitzende leise, ich meine, glaubst du, daß es jemand von Forvil ist oder jemand von draußen?
– Ich weiß nicht, sagte Jérôme zögernd, es ist nur eine Hand, die herausragt, eine Männerhand, ich glaube, es ist ein ziemlich junger Typ.
– Sieht man Kleidung? Overall oder …?
– Jeanshemd, sagte Jérôme, mit aufgeknöpfter Manschette.
– Und die Hand selbst, fuhr Becker unerbittlich fort, wenn man dich fragen würde, was würdest du sagen, gehört sie einem Dichter oder einem Hafenarbeiter?
Jérôme erschauerte. Er hatte während der drei viel zu langen Minuten, in denen er versucht hatte, der Leiche den Puls zu fühlen, reichlich Gelegenheit gehabt, die Hand zu studieren.
– Es ist kein Schwerarbeiter, sagte er langsam, die Nägel sind gleichmäßig und völlig sauber, und die Hand ist glatt, und ich glaube, er hat einen Tintenfleck am Zeigefinger, aber es kann auch etwas anderes sein.
Beckers graue Augen blickten nachdenklich.
– Ein junger Mann um die zwanzig, sagte er langsam, einer, der schreibt, lässig gekleidet, wie klingt das?
Es klang, als ob er eher laut dachte, als daß er mit Jérôme sprach, und Jérôme machte sich nicht die Mühe zu antworten.
– Hallo, Jean-Claude, sagte hinter ihm eine
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