Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
giftigen Gase es den Rettungsarbeitern unmöglich gemacht hatten, auf dem gewöhnlichen Weg hinunterzukommen.
Die Rettungsarbeiten dauerten zwei Wochen an und wurden von ganz Belgien verfolgt. Das belgische Fernsehen hatte tägliche Direktsendungen von dem Drama in Bois du Cazier. Es war das erste Mal, daß ein nationales Ereignis auf diese Weise verfolgt wurde.
Doch die Anstrengungen waren vergeblich. Am 23. August kamen die Rettungsarbeiter mit dem unwiderruflichen Bescheid nach oben: »Tutti cadaveri« – alle sind tot.
Der Bescheid kam auf italienisch, weil die meisten Grubenarbeiter Italiener waren. Die Liste der 262 Toten enthältNamen aus allen Ecken Europas, weil die belgische Regierung, genau wie Nunzia Paolini im Buch erzählt, auf dem ganzen Kontinent nach Arbeitskräften für die Kohlengruben gesucht hatten nachdem die deutschen Kriegsgefangenen nach Hause geschickt worden waren. Dies waren Jahre, in denen ein zerstörter Kontinent aufgebaut werden sollte, Jahre, in denen das Wachstum explodierte wie in China in den letzten Jahren, Jahre, in denen in Europas Kohlengruben rund um die Uhr abgebaut wurde, um Energie für die expandierende Industrie zu erzeugen. Und deshalb forderte die Katastrophe in Bois du Cazier Opfer aus zwölf Nationen – 136 Italiener, 95 Belgier, acht Polen, sechs Griechen, fünf Deutsche, drei Ungarn, drei Algerier, zwei Franzosen, einen Engländer, einen Holländer, einen Russen und einen Ukrainer.
Die italienische Einwanderung war am größten, weil die Regierungen Italiens und Belgiens 1946 einen Vertrag geschlossen hatten, daß Italien im Austausch gegen billige Kohle 50 000 Arbeiter an die belgischen Gruben liefern sollte.
Belgien war nicht das einzige Land, das während dieser Jahre auf dem kriegsverheerten Kontinent nach Arbeitskräften jagte. Im Bergslagen meiner Kindheit gab es Familien aus vielen Ländern – Sudetendeutsche, Italiener, Ungarn. Schwedische Behörden schlossen 1947 einen Vertrag darüber, Italiener, Jugoslawen, Ungarn sowie Sudetendeutsche aus der britischen Besatzungszone in Deutschland zu rekrutieren, um den Arbeitskräftebedarf in schwedischen Industrien und Gruben zu decken. Auch der Flüchtlingsstrom aus Ungarn nach der Revolte 1956 wurde als Gelegenheit gesehen, Arbeitskräfte für schwedische Unternehmen zu rekrutieren.
Es wirkt wie eine ferne und sehr fremde Landschaft, dieses wachstumsexplodierende und arbeitskräftehungrige Europa, in dem nicht nur das Wachstum, sondern auch die Arbeitsbedingungen an das heutige China denken lassen. In den neunziger Jahren, in denen dieses Buch spielt, hatte sich alles verändert, sowohl im schwedischen Bergslagen als auch im europäischen Bergbaugebiet, das sich vom nördlichen Frankreich über Luxemburg bis zum südlichen Belgien erstreckte – geschlossene Gruben, zusammengestrichene und stillegungsbedrohte Eisenwerke, Arbeitslosigkeit statt Mangel an Arbeitskräften.
Die Katastrophe in Bois du Cazier war nicht das einzige große Grubenunglück in Belgien in den fünfziger Jahren. 1953 kamen 26 Grubenarbeiter, dreizehn Belgier und dreizehn Italiener, bei einer Grubengasexplosion in der Many-Grube in der Nähe von Liège um. Der Prozeß nach dem Unglück in Many zeigte, daß Unterhalt und Arbeitsschutz in der Grube katastrophal vernachlässigt worden waren, weil schon entschieden war, daß sie geschlossen werden sollte, und daß die Verantwortlichen ausdrückliche Warnungen davor, daß es in den Örtern Grubengas gebe, in den Wind geschlagen hatten.
Am 11. Juli 1956, weniger als einen Monat vor der Katastrophe in Bois du Cazier, kam das Urteil über die verantwortlichen Chefs und Direktoren vom Berufungsgericht in Liège. Das Gericht stellte fest, daß die Grubenarbeiter durch die Fahrlässigkeit der Direktion »während mehrerer Monate in Lebensgefahr gebracht worden waren«, und verurteilte die Angeklagten zwischen einem Jahr und drei Monaten Gefängnis auf Bewährung.
Als aber drei Jahre später der Prozeß wegen der Katastrophein Bois du Cazier abgehalten wurde, wurden sämtliche Angeklagte vom Gericht in Charleroi freigesprochen, mit der Begründung, sie hätten alles in ihrer Macht Stehende getan, um nach der Katastrophe die eingeschlossenen Grubenarbeiter zu retten. Die vielen Mängel dabei, wie Arbeit und Arbeitsschutz organisiert waren, die während des Prozesses festgestellt worden waren, wurden ihnen nicht zur Last gelegt. (Die Informationen über die beiden Prozesse stammen aus dem Buch
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