Die Günstlinge der Unterwelt - 5
auf, wenn du willst. Nur setz dich nicht auf ihn drauf.«
Er nahm den Dacra seufzend entgegen. »Wenn es Euch glücklich macht. Aber ich glaube nicht, daß ich jemand erstechen könnte.«
Sie ließ sein Gewand los und blickte fort. »Du wirst überrascht sein, zu was man fähig ist, wenn man muß.«
»Seid Ihr deswegen gekommen? Weil Ihr einen Ersatzdacra gefunden habt?«
»Nein.« Sie zog das kleine Buch aus dem Beutel hinter ihrem Gürtel und warf es vor ihm auf den Tisch. »Gekommen bin ich deswegen.«
Er betrachtete sie aus den Augenwinkeln. »Plant Ihr eine Reise, Verna?«
Sie blickte ihn finster an und versetzte ihm einen Stoß gegen die Schulter. »Was ist los mit dir?«
Er schob das Buch von sich. »Ich bin einfach müde. Was ist an einem Reisebuch so wichtig?«
Sie senkte die Stimme. »Prälatin Annalina hat mir eine Nachricht hinterlassen, ich solle ihr privates Heiligtum aufsuchen, in ihrem Garten. Es war mit einem Schild aus Eis und Geist abgeschirmt.« Warren runzelte die Stirn. Sie zeigte auf den Ring. »Hiermit kann man es öffnen. Im Inneren fand ich dieses Reisebuch. Es war in ein Stück Papier eingeschlagen, auf dem nichts weiter stand als: ›Behüte dies mit deinem Leben.‹«
Warren nahm das Reisebuch in die Hand und blätterte die leeren Seiten durch. »Wahrscheinlich will sie Euch noch Anweisungen schicken.«
»Sie ist tot!«
Warren sah sie schief an. »Meint Ihr wirklich, das würde sie daran hindern?«
Verna mußte gegen ihren Willen schmunzeln. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht haben wir das andere mit ihr zusammen verbrannt, und sie hatte die Absicht, mein Leben aus der Welt der Toten zu bestimmen.«
Warren zog wieder ein mürrisches Gesicht. »Und wer hat nun das andere?«
Verna strich das Kleid hinter ihren Knien glatt, schob den Stuhl näher heran und setzte sich. »Ich weiß es nicht. Ich befürchte, es könnte sich um eine Warnung handeln. Vielleicht wollte sie, daß ich das andere finde und auf diese Weise unseren Feind erkenne.«
Warrens glatte Stirn legte sich in Falten. »Das ergibt keinen Sinn. Wie kommt Ihr darauf?«
»Ich weiß es nicht, Warren.« Verna wischte sich mit der Hand durchs Gesicht. »Das war das einzige, was mir einfiel. Kannst du dir etwas vorstellen, was mehr Sinn ergibt? Warum sonst sollte sie mir nicht verraten, wer das andere hat? Wenn es jemand ist, der uns helfen soll, jemand, der auf unserer Seite steht, dann hätte sie mir doch den Namen verraten, oder wenigstens, daß es sich um einen Freund handelt.«
Warren richtete seinen starren Blick wieder auf den Tisch. »Kann schon sein.«
Verna mäßigte ihren Ton, bevor sie weitersprach. »Was ist los, Warren? Ich habe dich noch nie so gesehen.«
Sie sah ihm lange in seine sorgenvollen blauen Augen. »Ich habe ein paar Prophezeiungen gelesen, die mir nicht gefallen.«
Verna musterte prüfend sein Gesicht. »Was besagen sie?«
Nach einer langen Pause blätterte er mit zwei Fingern ein Blatt Papier um und schob es ihr hin. Schließlich nahm sie es auf und las es laut vor.
»Wenn die Prälatin und der Prophet im heiligen Ritual dem Licht übergeben werden, werden die Flammen einen Kessel voller Arglist zum Sieden bringen und einer falschen Prälatin zum Aufstieg verhelfen, die über den Tod des Palastes der Propheten herrschen wird. Im Norden wird der, der im Bunde mit der Klinge steht, diese zugunsten eines silbernen Doms eintauschen, denn er wird sie wieder zum Leben erwecken, und sie wird ihn in die Arme des Unheils treiben.«
Verna mußte schlucken und hatte Angst, Warren in die Augen zu sehen. Sie legte das Blatt auf den Tisch und legte die gefalteten Hände in den Schoß, damit das Zittern aufhörte. Stumm saß sie da, starrte auf sie herab und wußte nicht, was sie sagen sollte.
»Es handelt sich um die Prophezeiung eines wahren Astes«, meinte Warren schließlich.
»Das ist eine verwegene Behauptung, Warren, selbst für jemanden, der, was Prophezeiungen anbetrifft, so talentiert ist wie du. Wie alt ist diese Prophezeiung?«
»Noch keinen Tag.«
Sie hob ihre großen Augen. »Was?« sagte sie leise. »Warren, soll das heißen … sie ist über dich gekommen? Du hast endlich eine Prophezeiung gemacht?«
Warren erwiderte ihren Blick mit seinen starren, geröteten Augen. »Ja. Ich fiel in eine Art Trance, und in diesem Zustand der Verzückung hatte ich eine Vision von Teilen aus dieser Prophezeiung, zusammen mit den Worten. So ist es auch bei Nathan passiert, glaube ich.
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